Widersacher-Zyklus 02 - Die Gruft
der Mauer mit einem lauten Krach zu, der von den Felswänden widerhallte, die Pferde scheuen und sein Herz für einen Moment stocken ließ.
Plötzlich war es dunkel. Warum gab es in Indien nicht eine richtige Dämmerung wie in England? Hier senkte sich die Nacht wie ein Vorhang herab.
Was war zu tun? Er hatte nicht erwartet, so lange bis zum Tempel zu brauchen, und er hatte weder die Dunkelheit noch eine Mauer als Hindernis in seinen Plan einbezogen. Aber warum zögern? Er wusste, es gab in dem Tempel keine Aufständischen – die hatte er schließlich selbst erfunden. Wahrscheinlich nur einige wenige Hindu-Mönche. Warum also nicht über die Mauer klettern und die Sache hinter sich bringen?
Nein … das wollte er nicht. Er sah keinen rationalen Grund dafür, aber ein ungutes Gefühl in der Magengegend riet ihm dringend, bis Sonnenaufgang zu warten.
»Wir warten bis zum Morgen.«
Die Männer sahen sich grummelnd an. Westphalen suchte nach einem Weg, wie er sie unter Kontrolle halten konnte. Er war kein besonders guter Schütze, und er konnte auch bei Weitem nicht so gut mit der Lanze umgehen wie die Soldaten. Die Garnison stand erst seit zwei Monaten unter seinem Befehl, bei weitem nicht lange genug, um sich ihr Vertrauen in seine Führungsqualitäten zu verdienen. Seine einzige Chance bestand darin, ihnen zu zeigen, dass er die besseren Entscheidungen traf. Und das konnte nicht so schwierig sein, sie waren schließlich nur Bauerntölpel.
Er beschloss, sich den vorzunehmen, der am lautesten murrte. »Haben Sie ein Problem mit meiner Entscheidung, Mr. Tooke? Wenn, dann äußern Sie das bitte freiheraus. Das ist jetzt kein Ort für Formalitäten.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte der angesprochene Soldat übertrieben höflich und salutierte. »Aber wir dachten, wir würden sofort losschlagen. Bis zum Morgen ist es noch eine ganze Zeit hin und wir wollen endlich kämpfen. Habe ich recht, Männer?«
Die anderen murmelten zustimmend.
Westphalen zierte sich ein bisschen und setzte sich bequem auf einen Felsblock, bevor er antwortete. Hoffentlich funktioniert es.
»Na gut, Mr. Tooke«, sagte er und unterdrückte den Widerhall seiner inneren Anspannung in seiner Stimme. »Sie haben meine Erlaubnis, den Tempel unverzüglich anzugreifen.« Als die Männer nach ihren Gewehren griffen, fügte er hinzu: »Selbstverständlich ist Ihnen klar, dass alle Rebellen in diesem Tempel sich dort schon seit Wochen aufhalten und mit dem Ort und seiner näheren Umgebung bestens vertraut sein dürften. Diejenigen von Ihnen, die noch nie auf der anderen Seite der Mauer gewesen sind, werden dort blindlings operieren müssen.«
Er sah, wie die Männer innehielten und sich gegenseitig ansahen. Westphalen seufzte erleichtert auf. Wenn er Tooke jetzt den Gnadenstoß versetzte, war er wieder obenauf.
»Angriff, Mr. Tooke?«
Nach langen Zögern knickte der Mann ein: »Ich glaube, wir warten bis zum Morgen, Sir.«
Westphalen klopfte sich die Hände an den Schenkeln ab und stand auf. »Gut! Wenn wir die Überraschung und das Sonnenlicht auf unserer Seite haben, werden wir die Rebellen mühelos ausräuchern. Wenn alles gut geht, seid ihr alle morgen um diese Zeit wieder in der Kaserne.«
Wenn alles gut geht, dachte er, dann erlebt ihr den morgigen Abend gar nicht mehr.
Kapitel 5
Samstag, 4. August
Manhattan
1
Gia stand im Innern der Gartentür und ließ den feinen Schweißfilm auf ihrer Haut durch die Klimaanlage kühlen und trocknen. Kurze, feuchte blonde Locken klebten in ihrem Nacken. Sie trug ein T-Shirt und eine kurze Jogginghose, aber selbst das war noch zu viel Kleidung.
Es war jetzt schon fast 30 Grad warm und es war gerade erst halb zehn.
Sie hatte Vicky geholfen, neue Vorhänge in ihrem Spielhaus aufzuhängen. Selbst mit einem Sonnenschutz vor den Fenstern und dem Luftzug, der vom East River herüberzog, war es in der kleinen Bude wie in einem Ofen. Vicky schien das nicht zu bemerken, aber Gia war sich sicher: Noch eine Minute länger und sie wäre ohnmächtig geworden.
Halb zehn. Eigentlich sollte es schon Mittag sein. Sie wurde hier am Sutton Square langsam verrückt. Es war ja ganz nett, ein Dienstmädchen zu haben, die sich um alles kümmerte, und es war auch nicht zu verachten, wenn alle Mahlzeiten für einen zubereitet wurden, wenn man sich in ein gemachtes Bett legen konnte und das ganze Haus klimatisiert war … aber es war so eintönig. Sie war das alles nicht gewohnt und sie konnte
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