Widersacher-Zyklus 02 - Die Gruft
Lebens. Sie war streng katholisch erzogen worden, und auch wenn die Tage zu einem einzigen Kampf von Gia und Vicky gegen die ganze Welt geworden waren und die Nächte – wenigstens die Nächte, in denen sich Richard die Mühe machte, überhaupt nach Hause zu kommen – ein einziger Kampf Gia gegen Richard, so hatte sie doch nie an Scheidung gedacht. Nicht bis zu der Nacht, in der ihr Richard aus einer besonders bösartigen Laune heraus erzählt hatte, warum er sie geheiratet hatte. Wenn er geil war, war sie so gut wie jede andere, hatte er ihr erklärt, aber eigentlich ging es nur um die Steuern. Sofort nach dem Tod seines Vaters hatte Richard begonnen, seine Vermögenswerte aus Großbritannien auf amerikanische oder multinationale Gesellschaften zu verlagern und nach einem amerikanischen Ehepartner zu suchen. Und mit Gia, die gerade aus dem mittleren Westen nach New York gekommen war, um als Werbegrafikern an der Madison Avenue Fuß zu fassen, hatte er so eine Amerikanerin gefunden. Der weltmännische Richard Westphalen mit seinen gepflegten Manieren und seinem britischen Akzent hatte sie umgehauen. Sie heirateten und er wurde damit amerikanischer Staatsangehöriger. Er hätte auch auf andere Weise einen amerikanischen Pass bekommen können, aber das war umständlich, und diese Art passte eher zu ihm. Die Zinsgewinne aus seinem Anteil am Westphalen-Vermögen wurden jetzt nach dem weit niedrigeren amerikanischen Steuerrecht versteuert und nicht mehr nach den mehr als 90 %, die die britische Regierung kassierte. Danach hatte er schnell das Interesse an ihr verloren. »Wir hätten uns für eine Weile miteinander vergnügen können«, hatte er gesagt, »aber du musstest ja zum Muttertier werden.«
Diese Worte hatten sich in ihren Schädel gebrannt. Sie hatte am nächsten Tag die Scheidung eingereicht und die drängenden Ermahnungen ihres Anwalts ignoriert, die ihr zustehende Abfindung zu verlangen.
Vielleicht hätte sie auf ihn hören sollen. Das hatte sie sich später immer wieder überlegt. Aber zu der Zeit wollte sie nur noch weg von ihm. Sie wollte nichts, dass aus seinem kostbaren Familienvermögen stammte. Sie gestattete ihrem Anwalt nur die Unterhaltsforderung für Vicky, weil sie wusste, dass sie auf das Geld angewiesen war, bis sie wieder beruflich Fuß gefasst hatte.
Spürte Richard Reue? Kratzte das kleinste Staubkörnchen Schuldbewusstsein an der polierten, stahlharten Oberfläche seines Gewissens? Nein. Tat er irgendetwas, um die Zukunft des Kindes zu sichern, dass er gezeugt hatte? Nein. Im Gegenteil, er hatte seinen Anwalt angewiesen, dafür Sorge zu tragen, dass er nur den Mindestbetrag an Unterhalt zahlen musste.
»Nein, Vicky«, sagte Gia. »Ich glaube nicht, dass er uns mag.«
Gia rechnete mit Tränen, aber stattdessen lächelte Vicky sie an.
»Jack mag uns.«
Nicht schon wieder.
»Ich weiß, dass er das tut, Liebling, aber …«
»Warum kann er dann nicht mein Daddy sein?«
»Weil …« Wie sollte sie ihr das erklären? »Weil manchmal, da reicht es einfach nicht, dass man sich mag. Da müssen auch noch andere Dinge sein. Man muss sich vertrauen, die gleichen Werte haben …«
»Was sind Werte?«
»Hmm … Man muss an die gleichen Dinge glauben, man muss das gleiche Leben führen wollen.«
»Ich mag Jack.«
»Ich weiß, dass du das tust, Liebling. Aber das heißt noch nicht, dass Jack der richtige Mann ist, um dein Vater zu sein.« Vickys blindes Vertrauen in Jack ließ Gia an ihrem Vertrauen in die Menschenkenntnis des Kindes zweifeln. Normalerweise konnte sie Menschen sehr gut einschätzen.
Sie hob Vicky von ihrem Schoß und hockte sich vor sie hin mit den Händen auf den Knien. Die Hitze in dem Holzhäuschen war erdrückend.
»Lass uns ins Haus gehen und eine Limonade trinken.«
»Nicht jetzt«, sagte Vicky. »Ich will mit Mrs. Jelliroll spielen. Sie muss sich verstecken, damit Mr. Traubenklau sie nicht findet.«
»Na gut. Aber komm bald ins Haus. Es wird zu heiß hier draußen.«
Vicky antwortete nicht. Sie war bereits in die Fantasiewelt ihrer Puppen versunken. Gia stand vor dem Spielhaus und überlegte, ob Vicky hier vielleicht zu viel Zeit allein verbrachte. Am Sutton Square gab es keine anderen Kinder, mit denen sie spielen konnte. Nur ihre Mutter, eine ältliche Tante, ihre Bücher und ihre Puppen. Gia wollte Vicky baldmöglichst zurück nach Hause in ihr normales Leben bringen.
»Miss Gia?«, rief Eunice ihr entgegen. »Mrs. Paton sagt, wir essen heute früher, weil
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