Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
und sein Bart waren lang und verfilzt und so schmutzig wie seine Kleider. Die Augen glühten, zeigten aber keine Spur von Intelligenz. Wenn der Mann einmal Verstand gehabt hatte, hatte er ihn lange weggesoffen. Er richtete sich auf und zog am Türgriff, die Tür war jedoch verriegelt. Er schob sich am Auto entlang zur Motorhaube. Er sah aus wie ein Obdachloser aus der Bowery. Alan konnte sich nicht erinnern, so jemanden jemals in Monroe gesehen zu haben.
Er schlurfte vor den Wagen, zeigte über die Motorhaube hinweg auf Alan und plapperte die ganze Zeit unverständlich vor sich hin. Angespannt, aber sicher wartete Alan, bis der Penner nicht mehr direkt vor ihm stand, dann gab er sachte Gas. Der Penner schlug mit der Faust gegen den Kofferraum, als der Wagen an ihm vorbeifuhr.
Im Rückspiegel sah Alan, wie der Mann hinter dem Wagen herrannte. Dann hielt er inne, blieb mitten auf der Straße stehen und starrte ihm nach: Es war ein Bild der Niedergeschlagenheit und der Enttäuschung, wie er so mit den Armen durch die Luft fuchtelte und sie dann wieder fallen ließ.
Das Vorkommnis hatte Alan erschüttert. Er warf einen kurzen Blick auf das Beifahrerfenster und bemerkte bestürzt einen großen öligen Fleck in der Form des Gesichtes des Penners. Als das Licht einer Straßenlaterne darauf fiel, schien es ihn anzusehen, und es erinnerte ihn unangenehm an das Gesicht auf dem Grabtuch von Turin .
Er wollte gerade vor einer weiteren roten Ampel anhalten, als sein Pieper auslöste. Vor Schreck trat er auf die Bremse. Er warf einen Blick auf die Nachricht: »Mrs Nash anrufen wegen Sohn. Klagt über Bauchschmerzen und Erbrechen.« Danach die Telefonnummer.
Alan richtete sich im Sitz auf. Er kannte Sylvia Nash gut. Sie war eine besorgte Mutter, aber keine Panikmacherin. Wenn sie anrief, stimmte mit Jeffy wirklich etwas nicht. Das beunruhigte ihn. Jeffy Nash hatte im Laufe der Jahre einen besonderen Platz in seinem Herzen und in seiner Praxis eingenommen.
Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Was sollte er tun? In einem solchen Fall traf er normalerweise den Patienten in seiner Praxis oder in der Notaufnahme. Seine Praxis lag am anderen Ende der Stadt, und er wollte heute Abend nur dann ins Krankenhaus zurückfahren, wenn es gar nicht anders ging. Dann kam ihm plötzlich die Idee: Das Haus der Nashs war nur ein kurzer Abstecher von der Route zwischen dem Krankenhaus und seinem eigenen Haus. Er könnte auf dem Weg nach Hause dort vorbeischauen.
Er lächelte, als die Ampel grün wurde und er Gas gab. Die Idee, Sylvia zu sehen, war angenehm. Und ein Hausbesuch – das dürfte die unerschütterliche Witwe Nash aus dem Konzept bringen.
Er folgte der Hauptstraße bis zum Eingang des Monroer Jacht- und Tennisclubs an der Westseite des Hafens, steuerte dann landeinwärts und durchquerte die unterschiedlichen sozialen Schichten, die die ›Gesamtgemeinde Monroe‹ bildeten. Das Viertel mit den Reihenhäusern und den billigen Pensionen kam direkt hinter dem Stadtzentrum und wurde dann von der Neubausiedlung abgelöst, die nach Kriegsende um die High School herum gebaut worden war. Von da aus ging es in die bewaldete Hügellandschaft, wo in den letzten zehn Jahren die Neubauten der Besserverdienenden entstanden waren. Dort lebte auch Alan und er wäre jetzt einfach weiter dem Hill Drive gefolgt, wenn er direkt nach Hause gefahren wäre. Stattdessen bog er an der nächsten Kreuzung rechts ab und folgte dem Shore Drive in Monroes exklusivstes Wohnviertel.
Alan schüttelte den Kopf bei der Erinnerung daran, dass er bei ihrem Umzug nach Monroe Ginny versprochen hatte, eines Tages würden auch sie eines dieser Häuser direkt am Meer besitzen. Wie naiv er damals doch gewesen war. Das hier waren keine Häuser – das waren Anwesen, die sich jederzeit mit den Luxusvillen in Glen oder Lattingtown messen konnten. Er konnte sich nicht die Steuern, Neben- und Unterhaltungskosten eines dieser alten Monstren leisten, geschweige denn die Hypothekenraten.
Hohe Mauern und Baumbestände schützten diese Anwesen vor den neugierigen Blicken der Passanten. Alan folgte den Windungen der Straße, bis die Scheinwerfer über die zwei hohen Torpfosten aus Ziegelsteinen glitten, die den Eingang säumten und die Bronzetafel zur Linken beleuchteten, die mit TOAD HALL beschriftet war.
Er bog ein, folgte einem kurzen, mit Lorbeerbüschen gesäumten Weg und erreichte das Nash-Haus – das ehemalige Borg-Anwesen –, das sich unter Weiden dunkel vom klaren
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