Widersacher-Zyklus 03 - Die Gabe
ihre Hand löste sich von ihm.
»Wenn es irgendeine Veränderung in der Nacht gibt, rufen Sie, ansonsten kommen Sie morgen früh mit ihm in die Praxis. Ich werde ihn mir dann noch einmal ansehen.«
»An einem Mittwoch?«
»Richtig, am Donnerstag bin ich nicht in der Stadt, darum ist die Praxis morgen geöffnet. Aber kommen Sie früh. Am späten Nachmittag muss ich im Flieger sitzen.«
»Urlaub?«
»Nein, ich muss nach Washington. Ich soll vor Senator McCreadys Unterausschuss zur Gesetzesvorlage über die Medizinischen Richtlinien Stellung nehmen.«
»Klingt aufregend. Aber ein weiter Weg, nur um mit einigen Politikern zu reden. Ist es so wichtig?«
»Ich wäre versucht zu sagen, dass diejenigen, die im Vertrauen der Öffentlichkeit ganz hinten stehen, bestrebt sind, diejenigen zu reglementieren, denen das Vertrauen der Öffentlichkeit gehört, aber ich will nicht pathetisch klingen.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an, seien Sie ruhig pathetisch.«
»Nun … Es ist so, dass mein Berufsleben – die ganze Art, wie ich praktiziere – auf dem Spiel steht.«
»Ich habe nichts über diesen Gesetzesentwurf gehört.«
»Das haben die meisten Leute nicht. Es ist ein idiotischer Entwurf, der sich aber auf jedermann hierzulande auswirken wird, weil die Ärzte damit gezwungen werden, Medizin im Baukastenprinzip zu praktizieren. Und wenn das geschieht, werde ich aufgeben. Ich streiche lieber Schiffsböden an, als auf diese Weise als Arzt zu arbeiten.«
»Eine Sache aufgeben und nach Hause gehen?«
Alan starrte sie an, verletzt. »Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, was?«
»Für gewöhnlich nicht. Aber das ist keine Antwort.«
»Es geht nicht darum wegzulaufen und zu schmollen. Es ist …« Er zögerte, unsicher, was er sagen sollte, aber darauf bedacht, sich ihr gegenüber klar auszudrücken. »Es ist eher so etwas, wie mit den Achseln zucken und einer unhaltbaren Situation den Rücken kehren. Mein Arbeitsstil und der dieser Bürohengste sind miteinander unvereinbar. Wie ich arbeite, passt nicht in deren System, und wenn sie mich nicht in ihre Schubladen pressen können, werden sie mich entweder ändern oder aus dem System drängen wollen.«
»Weil Sie dazu neigen, auf Ihren Bauch zu hören?«
Alan musste lächeln. »Ich würde eher sagen, es geht um Intuition auf der Basis von Erfahrungen, aber ich schätze, man kann es auch so ausdrücken. Heute Abend bei Jeffy höre ich auch auf meinen Bauch.«
Besorgnis zeigte sich in ihren Augen. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, gemäß den in den Medizinischen Richtlinien auf gestellten Anordnungen müsste ich Jeffy und Sie heute Abend in die Notaufnahme schicken, um ein Blutbild und eine Röntgenaufnahme des Bauches zu machen, damit eine Blinddarmentzündung ausgeschlossen werden kann, denn laut Schulmedizin wäre das eine mögliche Diagnose.«
»Und warum tun Sie das nicht?«
»Weil meine Intuition mir sagt, dass er keine Blinddarmentzündung hat.«
»Und Sie vertrauen Ihrer Intuition?«
»Ich habe gelernt, ihr zu vertrauen.«
»In Ordnung«, sagte Sylvia mit einem Lächeln. »Dann tue ich das auch.«
Sie musterte ihn und ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen. Einem solchen Blick konnten Künstlichkeit und Prätention nicht standhalten.
Alan starrte sie an. So hatte er sie noch nie erlebt. Sie war immer todschick gekleidet, sogar wenn sie Jeffy in die Praxis brachte. Es gehörte zu ihrer Rolle der reichen, lebenshungrigen Witwe Nash. Jetzt war sie jedoch ungeschminkt, das dunkle, fast schwarze Haar war einfach nach hinten gebunden, ihre schlanke Gestalt war in einen formlosen Morgenmantel eingehüllt, und trotzdem fand er sie so unglaublich attraktiv wie immer. Was war an ihr, das ihn so anzog? Er konnte gar nicht anders, er war sich immer bewusst, dass sie eine Frau war, so als würde sie ein Pheromon aussenden. Er wollte die Hände ausstrecken und …
Deswegen hatte er sich vor diesem Hausbesuch gefürchtet.
Ihre Stimme wandelte sich plötzlich zu einem übertrieben koketten Flüstern und brach den Bann. »Nebenbei bemerkt, mir gefällt der Bauch, auf den Sie hören.«
Da haben wir es, dachte er, ihre Mae-West-Nummer. Nun, da er ihr gesagt hatte, dass mit Jeffy alles in Ordnung sei, war sie wieder die alte frotzelnde Sylvia.
»Um die Wahrheit zu sagen, wenn ich gewusst hätte, dass es so einfach ist, Sie ins Haus zu bekommen, hätte ich schon Vorjahren mal des Nachts angerufen.«
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Alan.
Er ging die Treppe zum Foyer
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