Wie angelt man sich einen Earl
die alten Ölschinken an der Wand interessiert – besonders in diesem speziellen Zimmer. „Ich schenke den Bildern schon seit Jahren keine Beachtung mehr“, hatte er gemurmelt und ihre weiblichen Rundungen voller Hingabe liebkost. „Für mich gehören sie einfach zu Pembroke Manor wie das restliche Inventar.“
Trotzdem konnte er nicht anders, als das Bild anzuschauen, das er niemals hatte ignorieren oder gar entfernen können, so groß der Drang auch war und so oft er es auch versuchte.
„Wer ist sie?“, fragte Angel, die seinem Blick gefolgt war.
Unwillkürlich fragte er sich, was sie wohl in den ebenmäßigen Zügen sah, wenn sie das Porträt betrachtete, und hätte am liebsten die Verwandtschaft geleugnet, als würde das die Qual und den Schmerz in seinem Inneren lindern. Doch er tat es nicht. „Meine Mutter“, gestand er schließlich, als das Schweigen immer lastender wurde. Angel hatte sich ihm zugewandt und aufmerksam sein Gesicht studiert, als könnte sie in seiner verschlossenen Miene lesen wie in ihren geliebten Büchern.
Bei dem verrückten Gedanken hatte er tatsächlich so etwas wie Panik verspürt.
„Du musst sie sehr geliebt haben“, sagte sie schließlich.
Er hatte ihren Kopf zu sich heruntergezogen und alles in einem heißen Kuss erstickt, was sie vielleicht sonst noch sagen würde. Denn das Letzte, was er wollte, war, mit Angel über seine Mutter zu reden. Schlichtweg aus Angst, sie könnte Dinge sehen und aufgreifen, die er verschweigen wollte. Dinge wie die Bitterkeit und Unversöhnlichkeit, die ihn auch nach den vielen Jahren noch umtrieben.
Jetzt stand er allein vor dem Porträt und starrte es an, als suchte er nach einer Lösung. Als läge sie hier, unter Ölfarbe und Firnis verborgen. Die Familienähnlichkeit zwischen ihnen war nicht zu übersehen. Er hatte die gleichen grauen Augen wie sie, die hohen Brauen und das schwarze dichte Haar. Oliver hatte sie den Gesichtsschnitt, die helle, typisch englische Haut sowie Größe und Körperbau vermacht, während Rafe die markante Knochenstruktur und den dunklen Teint seines Vaters hatte, genau wie dessen hochgewachsene muskulöse Gestalt.
Doch was die beiden noch viel mehr verband als die äußere Ähnlichkeit war ihre Alkoholsucht. Neun Jahre älter als Rafe, hatte sein Bruder beim Trinken nicht nur mitgemacht, sondern ihre labile Mutter darin bestärkt und das Ganze bis zum Exzess getrieben. Aber vielleicht war auch sie die Verführerin gewesen, die in ihrem Erstgeborenen den perfekten Komplizen für das dekadente und letztlich tödliche Spiel gefunden hatte.
„Ich hätte sie geliebt …“, sagte er laut in dem leeren Raum als verspätete Antwort auf Angels Frage. „Wenn sie es nur zugelassen hätte.“
Kaum hatte er die lange verdrängte, bittere Wahrheit endlich ausgesprochen, da überfiel ihn das Gefühl, in einen finsteren, emotionalen Sog zu geraten, der ihn fast von den Füßen riss. Rafe bekam keine Luft mehr. Ein namenloser Schmerz drohte seine Brust zu sprengen. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, doch es war aussichtslos. All die schrecklichen Erlebnisse seiner Kindheit rollten wie ein greller, bizarrer Film vor seinem inneren Auge ab: Spott, Häme, bösartige Unterstellungen, Hohngelächter …
Und dann die langen Nächte, die er allein in der Bibliothek seines Großvaters verbracht hatte, zitternd zusammengerollt in dem alten Ledersessel, während er versucht hatte, seine Ohren gegen das lasterhafte Gegröle zu verschließen, das von irgendwo im Haus zu ihm herüberschallte. Verzweifelt hoffte und betete er, wenigstens dieses Mal ungeschoren davonzukommen, doch meistens hatte er kein Glück.
Rafe sah sich selbst im Alter von vierzehn, wie er seinen Bruder anflehte, nicht mit der Mutter zu trinken. Noch jetzt glaubte er, den brutalen Schlag auf den Mund zu spüren, mit dem Oliver ihn zum Schweigen gebracht hatte. Dann sah er die beiden vor seinem inneren Auge, wie sie sich nach dem Tod seines Vaters immer wieder in dessen Arbeitszimmer zurückzogen, um sich mit Alkohol abzufüllen. Schwankend lagen sie sich in den Armen und steckten die Köpfe zusammen, um immer neue, üble Verschwörungen und Perversitäten auszuhecken. Dabei versuchte einer stets den anderen zu übertrumpfen, um noch perfider und gemeiner zu sein. Ohne den alten Earl im Hintergrund drifteten Mutter und Sohn unaufhaltsam auf den Abgrund zu.
Mit sechzehn war Rafe entschlossen, Pembroke Manor zu verlassen. Er verabscheute und verachtete die
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