Der Rote Mond Von Kaikoura
Prolog
Neuseeland 1837
Stöhnend wälzte sich der junge, dunkelhaarige Mann auf seinem Lager herum. Verstörende Träume, im Wechsel mit Phasen absoluter Finsternis und dem Gefühl, von innen heraus zu verbrennen, hatten die Erinnerung an die vergangenen Tage verschlungen. Das Fieber war rasch angestiegen, dann wieder etwas gefallen, um anschließend erneut in die Höhe zu schnellen und den jungen Mann an den Rand des Todes zu bringen. Dass er nach allem, was geschehen war, überhaupt noch lebte, hatte der Bursche, der nicht mehr als achtzehn Lenze zählte, dem Fremden zu verdanken, der neben ihm hockte und den Blick nicht von seinem Gesicht ließ.
Das Gesicht des Mannes war mit einem moko geschmückt; seine schwarzen Haare flossen in dichten Locken auf seine Schultern. Neben seinen Knien lag ein Muschelhorn, in das er in bestimmten Zeitabständen immer wieder blies, um die bösen Geister abzuwehren, die er für das Delirium des Jungen verantwortlich machte. Es waren viele Geister, die an seiner Seele und seinem Körper zerrten und versuchten, ihm das Leben auszusaugen. Geister, die ihm wohl von den anderen weißen Männern geschickt wurden, in deren Begleitung er sich befunden hatte.
Der Heiler hatte eine ganze Weile aus seinem schützenden Blätterversteck den Trupp von pakehas , weißen Männern, beobachtet und gesehen, was sie mit dem Jungen getan hatten. War es eine verdiente Strafe gewesen? Er wusste nicht, nach welchen Maßstäben die Weißen ihr Recht sprachen. Viele von ihnen hatten sich an seinem Volk vergangen, Männer getötet und Frauen geschändet und das alles für ihr gutes Recht gehalten. Möglicherweise war der Junge ja nur deshalb bestraft worden, weil er sich nicht ihren schlimmen Taten anschließen wollte.
Als die Männer gegangen waren, hätte er sich umwenden und den Jungen zum Sterben zurücklassen können, doch das brachte er nicht über sich. Außerdem war alles Leben, das papa und rangi auf der Erde erschaffen hatten, heilig. Wenn die Geister versuchten, einem Menschen das Leben zu nehmen, dann war es seine Pflicht, das zu verhindern. Seit Generationen wurde diese Pflicht in seiner Familie weitervererbt.
So fern von seinem Dorf war es für ihn natürlich schwierig, seiner Arbeit nachzugehen. In seiner Hütte hatte er wesentlich mehr hilfreiche Kräuter zur Verfügung, doch glücklicherweise hatte er sein Muschelhorn dabei, jenes Instrument, mit dem er die Geister bannen und dazu bringen konnte, von dem Bewusstlosen abzulassen, damit er sich wieder erholen konnte.
Als er erneut nach dem Instrument griff und eine neue seltsame Melodie darauf spielte, zuckte der Bursche heftig zusammen und riss dann die Augen auf. Sein Atem ging stoßweise, Schweißperlen rannen über seine Stirn und seine Wangen.
Ohne seine Melodie zu unterbrechen, registrierte der Heiler die Veränderung. Jetzt hatte er sie! Die Geister waren endlich bereit, ihm zuzuhören.
Er stimmte ein anderes Lied an, ein wütenderes, das er immer wieder mit beschwörenden Formeln unterbrach. Seine Laute schreckten ein paar Vögel auf, die sich kreischend aus den Baumkronen erhoben. Der Heiler achtete nicht darauf. Er machte weiter, bis sich der Atem des Jungen wieder beruhigte und seine Muskeln ihre Anspannung verloren.
Als der Bursche schließlich wieder eingeschlafen war, holte er eine Hand voll Kräuter aus einem Beutel, den er an seinem Gewand trug, und warf sie auf die kleine Feuerstelle unweit von ihnen. Aromatischer Rauch stieg auf zu den Baumkronen, wo er sich mit dem Nebel mischte. Der Heiler schloss die Augen und sprach stumm die alten Gebete, mit denen er seine Ahnen und die Götter bat, ihm Kraft zu schenken, damit er dieses Leben retten konnte.
Als der Junge wieder zu sich kam, erblickte er zunächst nichts anderes als sattgrünes Blattwerk, das sich hinter einem wabernden Schleier verbarg. Fremdartige Geräusche hüllten ihn ein, ein Rascheln ertönte neben ihm. Der Versuch, seinen Kopf zur Seite zu drehen, scheiterte an einem scharfen Schmerz, der seine Schläfe durchzog. Was war los mit ihm? Er konnte sich an den Gesang erinnern und an eine bittere Flüssigkeit, die durch seine Kehle geronnen war. Doch alles andere verschwand ebenso im Nebel wie der Himmel über ihm.
Da er sich auch nicht aufrichten konnte, bemühte er sich herauszufinden, was geschehen war. Nach einer Weile gelang es ihm, den Schleier des Vergessens ein wenig zu lüften. Er hatte auf einem englischen Handelsfahrer angeheuert, dessen Ziel
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