Wie die Iren die Zivilisation retteten
Patrick eine so überwältigende Mission empfand, sondern daß es in den vier Jahrhunderten zwischen Paulus und Patrick keine Missionare gab. Nach Ansicht der römischen Bürger konnte man nur in einer römischen Stadt oder auf einem Gut leben. Der pagus, das unkultivierte Land, bedeutete Unbequem-lichkeit und hartes Leben. Die Bewohner des pagus – die paganie (englisch pagans, Heiden) – waren rauhe, unzuverlässige und bedroh-liche Bauerntölpel. Die römischen Christen übernahmen dieses Vorurteil, ohne es zu prüfen. Augustinus in seiner Gründlichkeit erkannte, daß der ahistorische platonische Weg zur Weisheit durch Kenntnisse und geruhsames Nachsinnen nicht gangbar war und daß er durch die
biblische Reise durch die Zeiten ersetzt werden müsse – die Reise durch das Leben jedes einzelnen und das Leben der Rasse. Dennoch
ließen ihn die Worte iter (Reise) und peregrinatio (Pilgerschaft) schau-dern. Als Bischof von Hippo besuchte er die Landbezirke, über die er nominell herrschte, so gut wie nie, und als er es einmal tat, wäre er beinahe von Circumcelliones angegriffen worden, radikalen Donatisten, einer Art christlicher Mischung aus Randalierern und Gotteskin-dern. Er wiederholte seine frühen Reisen nach Rom und Mailand
nicht, und nicht in einer Million Jahre hätte er daran gedacht, die Ökumene – das Gebiet unter römischer Regierung – zu verlassen.
Jenseits der Ökumene, außerhalb des Imperiums, lag unvorstellbares Chaos. »Hier gibt es Monster«, sagen die mittelalterlichen Landkarten von nichtkartographiertem Gebiet.
In Wahrheit verließ auch Paulus, der große missionarische Apostel, die griechisch-römische Ökumene nie, auch wenn er für die Frohe
Botschaft alles Elend des Reisens im Altertum durchlitt. Thomas, der in Indien gewesen sein soll, verließ vielleicht die offizielle Ökumene, missionierte aber trotzdem in einer alten Zivilisation, die viele Ver-95
bindungen zur griechischen Welt hielt. Damit war Patrick tatsächlich der erste Missionar, der zu Barbaren außerhalb der Reichweite des römischen Rechts ging. Der Schritt, den er unternahm, war in mancher Hinsicht ebenso mutig wie der von Kolumbus – und tausendmal
humaner. Er selbst war sich dieser Radikalität be- wußt: »Das Evangelium«, erinnerte er später seine Ankläger, »wurde bis an den Punkt gepredigt, hinter dem nichts mehr ist« – nichts als der Ozean. Er war auch nicht blind gegenüber den Gefahren; sogar in seinen letzten
Jahren »bin ich jeden Tag darauf vorbereitet, ermordet, verraten oder versklavt zu werden – was immer mir geschehen mag. Doch dank der
Verheißung des Himmels habe ich keine Angst vor diesen Dingen,
denn ich habe mich in die Hände Gottes des Allmächtigen begeben. «
Sankt Patrick war ein Gentleman
und stammte von ehrbaren Leuten ab,
lautet ein Schlager aus dem neunzehnten Jahrhundert. Und so war es.
Er war ein guter und tapferer Mann von natürlichem Adel. Unter
einfachen, offenen Menschen, die seine Anständigkeit rückhaltlos zu schätzen wußten, war der Erfolg seiner Mission garantiert.
Die Liebe zu seinem adoptierten Volk schimmert in all seinen
Schriften durch. Es ist nicht bloß ein allgemeines »christliches« Wohl-wollen, sondern eine Liebe zu den Individuen, wie sie sind. Er erzählt uns von »einer gesegneten Frau, irisch von Geburt, edel, außerordentlich schön (pulcherrima) – eine wirklich Erwachsene –, die ich taufte.«
Wer könnte sich solch offene Bewunderung für eine Frau aus Augu-
stinus’ Feder vorstellen? Wer könnte sich solch detaillierte Beschreibung bei irgendeinem der Männer vorstellen, die im Heiligenkalender aufgelistet sind?
Unaufhörlich ist Patrick besorgt um seine Leute, nicht nur um ihr geistiges, sondern auch um ihr körperliches Wohlergehen. Die
Schrecken der Sklaverei sind stets lebendig in ihm: »Doch die Frauen in der Sklaverei leiden am meisten – und sie bleiben aufrecht, trotz all der Qualen und der Schrecken, die sie erleiden müssen. Der Herr gibt seinen vielen Dienerinnen Anmut; und auch wenn es ihnen verboten
96
ist, folgen sie ihm aufrecht.« Patrick ist ein Ire geworden, ein Mann, der der Stärke und Kraft einer Frau mehr Vertrauen entgegenbringt als irgendein klassisch gebildeter Mann.
In seinen letzten Jahren konnte er auf ein Irland sehen, das sich durch seine Lehre verändert hatte. Zumindest der Sage nach setzte er in Nord-, Ost- und Zentralirland Bischöfe ein: Er selbst war Erzbischof in Ard Macha (dem
Weitere Kostenlose Bücher