Wie die Iren die Zivilisation retteten
Brüder und Söhne, die ich in Christus gezeugt habe (ich kann sie nicht zählen), was soll ich für euch tun? Ich bin es nicht wert, Gott oder Mensch zur Hilfe zu kommen. Die Boshaf-tigkeit der Bösen hat sich gegen uns verschworen. Wir sind wie
Fremde geworden. Kann es sein, daß sie nicht glauben, daß wir eine Taufe erhalten oder daß wir einen Gott und Vater haben? Ist es in ihren Augen eine Schande, daß wir in Irland geboren wurden?«
Die britischen Christen betrachteten die irischen weder als echte Christen noch als menschliche Wesen – denn sie waren keine Römer.
Patrick, dem sein Fremdsein bei der Rückkehr nach Britannien zahlreiche Zurückweisungen eingetragen hatte, kannte den Snobismus
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der gebildeten Römer nur zu gut. Mitte des fünften Jahrhunderts
gingen sie zu Recht davon aus, daß Römer und Christen ein und
dasselbe seien. Patrick, der im Randbezirk von Europas Geographie und des menschlichen Bewußtseins wirkt, hat sich weiter von seinem Geburtsrecht entfernt, als wir es uns vorstellen können. Er ist kein Brite oder Römer mehr. Wenn er in seinem Schmerz ausruft: »Ist es...
eine Schande, daß wir in Irland geboren wurden?« wissen wir, daß er die alte Zivilisation für immer hinter sich gelassen hat und sich ganz und gar mit den Iren identifiziert.
Seine britischen Brüder finden sein Verhalten unerklärlich und suchen nach einem verborgenen Motiv. Er ist nach Irland gegangen, um sich an den arglosen Iren zu bereichern – hast du nicht gehört, daß er für Taufen und Bischofswürden Geld nimmt? Wußtest du, daß er
früher ein Schweinehirt war, ein dreckiger kleiner Schweinehirt?
Wußtest du – es ist ein Skandal, wahrhaftig, und hätte ihn beinahe sein Amt gekostet –, wußtest du, daß er in seiner Jugend ...? Gegen diese gemeinen Tuscheleien schreibt Patrick sein offenes Bekenntnis und verteidigt sein Leben vor den öffentlich geäußerten Zweifeln
derjenigen, die er »dominicati rhetorici« nennt; es sind die klassisch ausgebildeten Priester Britanniens, die klerikale Intelligenzia. Irgendwie war sogar die private Beichte, die er am Vorabend seiner Ordination abgelegt hatte, zu Wasser auf den Mühlen geworden; über die
Sünde, die er gestanden hatte, wurde geklatscht.
Ich vermute, daß diese Sünde Mord war. Er war fünfzehn – und
wie viele Sünden kann ein Fünfzehnjähriger schon begehen, die ihn in der Mitte seines Lebens immer noch verfolgen, vor allem nach einem Leben, das so bewegt und hart war wie das von Patrick? (Patrick
beging die Sünde schätzungsweise im Jahre 400, wurde ein Jahr später entführt und floh vielleicht 407; aber er wurde erst etwa 430 ordiniert, denn er kehrte erst 432 nach Irland zurück, als er – zumindest nach dieser Schätzung – siebenundvierzig gewesen sein muß.) Obwohl
später Augustinus’ Hauptsorge, wurden fleischliche Sünden in jener Zeit nicht als sehr schwerwiegend betrachtet. Diebstahl in großem Stil ist noch unwahrscheinlicher, wenn man die Lebensumstände und die
Wachsamkeit der Familie bedenkt. Mord dagegen, besonders an
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einem Sklaven oder Diener, hätte keine sozialen Konsequenzen mit
sich gebracht – noch hätte es dem Mörder viel bedeutet, solange er sich nicht selbst auf der Opferseite befand. Zumindest tritt die Wild-heit dieses normalerweise friedfertigen und ruhigen Mannes nur
zutage, wenn Sklaverei oder Blutvergießen das Thema sind.
Auch wenn seine britischen Zeitgenossen sie nicht erkannten, ist
doch Patricks Größe über jeden Zweifel erhaben: Er war der erste
Mensch der Weltgeschichte, der sich eindeutig gegen die Sklaverei aussprach. Bis zum siebzehnten Jahrhundert war keine so starke
Stimme mehr zu vernehmen. Zu seiner Zeit schätzten ihn nur die Iren angemessen; jenseits der Grenzen war er so wenig bekannt wie Augustinus in Irland. Von Augustinus, der, zwei Jahre bevor Patrick Bischof wurde, gestorben war, hat Patrick wahrscheinlich nie gehört; und wenn er von ihm gehört hat, dann hat er ihn bestimmt nicht
gelesen. Zu jener Zeit konnte es ein Jahr dauern, bis Neuigkeiten sich von einem Ende des zerfallenen Reiches zum an- deren Ende verbreitet hatten – Bücher konnten zehn oder zwanzig Jahre brauchen, oder sogar ein halbes Jahrhundert. Aber Patrick zeigt uns, daß er das duale Konzept von einem Staat der Menschen und einem Staat Gottes
genauso erfaßt hatte wie Augustinus, wenn er Coroticus und seine
Männer beschreibt als: »Hunde und Zauberer und Mörder und Lüg-
ner
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