Wie die Iren die Zivilisation retteten
Mann ein Held. Und ein irischer Krieger in der Eisenzeit war schon gar kein Held in den Augen seines britischen Sklaven – eines jungen, der seine ersten sechzehn Jahre in der Annehmlichkeit und Sinnlichkeit einer römischen civitas verbracht hatte.
Wenn Cuchulainn auf der Murtheimne-Ebene »einhundertdreißig
Könige« schlagen konnte, mußte Irland Hunderte von Königen be-
herbergen. Einem von ihnen gehörte Patricius. Sein Name war Mili-
ucc, und wir wissen von ihm nur, daß er über ein paar Hügel von
Antrim regierte, zwischen Lough Neagh und den Bergen von Sliabh
Mis. Ri , das irische Wort für König, ist mit dem lateinischen rex verwandt, doch diese Könige waren – zumindest in unseren Augen –
eher kleinere Häuptlinge, regionale Anführer, die über ein paar Dutzend Familien von Viehbauern herrschten. »Viehdiebe« wäre viel-
leicht die treffendere Bezeichnung, denn es gab kaum ein anderes
Recht als das der Macht. Die im Tain beschriebenen gewaltigen Verwüstungen sind im Grunde übertriebene Darstellungen ganz norma-
ler Vorgänge: Daß eine Adelsfamilie der anderen Vieh stahl, war an der Tagesordnung.
Das Leben eines Schäfersklaven kann kein glückliches gewesen
sein. Aus der Zivilisation herausgerissen, hatte Patricius als einzigen Beschützer einen Mann, der noch nicht einmal sein eigenes Leben für wertvoll hielt, geschweige denn das Leben anderer. Die Arbeit der Hirten war einsam. Monate verbrachten sie allein in den Hügeln. Die gelegentlichen Begegnungen mit anderen, über die man sich in solcher Lage normalerweise freuen würde, brachten ihre eigenen
Schwierigkeiten mit sich. Ohne den Kontakt zu anderen Menschen
hatte Patricius sicher große Schwierigkeiten, Sprache und Gepflogen-89
heiten seines Exillandes zu erlernen, so daß das Erscheinen von
Fremden in den Hügeln ein zusätzlicher Schrecken gewesen sein
muß.
Wir wissen, daß er zwei ständige Begleiter hatte, den Hunger und
die Nacktheit, und daß Magenknurren und Gänsehaut seine schlimm-
sten Leiden waren, ständig präsent und nicht abzuschütteln. Aus
diesen spärlichen Informationen – Patricius macht nicht viele Worte –
können wir schließen, daß der Junge eine gute Konstitution hatte und wahrscheinlich ein geliebtes und gut versorgtes Kind gewesen sein muß, denn sonst hätte er nicht überlebt.
Wie viele andere Menschen unter schrecklichen Umständen begann
er zu beten. Bis dahin hatte er sich nie für die Lehren seiner Religion interessiert; er erzählt, daß er nicht wirklich an Gott glaubte und Priester albern fand. Aber nun konnte er sich an niemanden wenden als an den Gott seiner Eltern. Man fühlt sich an die Berichte heutiger Geiseln erinnert, wenn sie die Jahre ihrer Gefangenschaft beschreiben:
»Meine tägliche Arbeit war die Wacht über die Herde, und ich betete den ganzen Tag über. Die Liebe Gottes und die Angst vor ihm umga-ben mich immer mehr – und der Glaube wuchs, und der Geist wurde
erweckt, so daß ich an einem Tag hundert Gebete sprach und ebenso viele in der Dunkelheit, auch wenn ich in den Wäldern oder den
Bergen blieb. Ich wachte auf und betete vor Tagesanbruch – in Schnee, Frost oder Regen –, und keine Schwerfälligkeit war in mir (wie ich sie heute empfinde), denn der Heilige Geist war lebendig in mir.«
Patricius durchlitt sechs Jahre in dieser beklagenswerten Isolation, und am Ende hatte er sich von einem sorglosen Jungen zu einem
Menschen entwickelt, der er sonst nicht geworden wäre – zu einem
heiligen Mann, einem Visionär, für den es zwischen dieser und der nächsten Welt keine Trennung mehr gab. in der letzten Nacht als
Miliuccs Sklave machte er im Schlaf seine erste übersinnliche Erfahrung. Eine geheimnisvolle Stimme sprach zu ihm: »Dein Hunger ist
belohnt: Du gehst nun nach Hause.«
Patricius setzte sich erschrocken auf. Die Stimme fuhr fort: »Siehe, dein Schiff ist bereit.«
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Miliuccs Haus befand sich im Landesinneren und nicht am Meer; Patricius machte sich dennoch auf, ohne die Richtung zu kennen. Er ging ungefähr zweihundert Meilen durch ein Gebiet, das er nie zuvor betreten hatte. Keiner hielt ihn auf, niemand folgte ihm, und er erreichte eine südöstliche Bucht, wahrscheinlich in der Nähe von Wexford, wo er sein Schiff erblickte. Während er sich seinem Ziel näherte, muß sein Glaube, unter dem Schutz Gottes zu stehen, immer fester
geworden sein, denn es war eigentlich unmöglich, daß ein flüchtiger Sklave, ohne aufgehalten zu
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