Wie die Madonna auf den Mond kam
nach vorn, ganz langsam. Gleich würde sie ihren Stock greifen und losdreschen, mit keifender Stimme. Schlagen und immer wieder schlagen. Und Fritz würde keine Miene verziehen. Er würde grinsen, so wie immer, wenn die Barbu Kleinholz auf ihm hackte, sich in Rage schrie, bis sie vor Erschöpfung in sich selbst zusammensackte. Doch die Barbu schlug nicht. Sie nahm einen Lappen und putzte die Tafel sauber. Dann schnäuzte sie in das Trockentuch und rieb sich die Augen. Der Staub der Kreide vermischte sich mit ihren Tränen und verschmierte ihr Gesicht.
»Ihr könnt nach Hause gehen«, sagte sie leise.
Ihre Stimme klang unendlich müde. Doch alle blieben sitzen. Nur Fritz packte hastig seine Schultasche und verschwand. Dann schrillte die Glocke. Angela Barbulescu nahm das Bild Stephanescus von der Wand und schlurfte in ihren Gummistiefeln aus der Klasse.
2
Ehrliche Zigeuner, fromme Sachsen und die Studien des schwarzen Philosophen
»Schick diesen Mann zur Hölle! Vernichte ihn!« Was auch immer die Barbu gemeint hatte, es überstieg meine Vorstellungskraft. Fahr zur Hölle! Geh zum Teufel! Wie oft hatte ich diese Flüche in der Schankstube gehört. Selbst Pfarrer Johannes Baptiste war, wenn er seine Beschimpfungen der Feinde des Glaubens von der Kanzel herabschmetterte, wahrhaftig nicht zimperlich. Aber jemanden vernichten? Dem Jüngsten Gericht vorgreifen? Niemals!
Vernichten! Was hieß das überhaupt? Man vernichtete Unkraut, lästige Insekten und Ratten, wenn sie zur Plage wurden. Und Feinde natürlich. Aber nur im Krieg und in Notwehr und wenn man ein Held war. Vorsicht war geboten bei allen Vernichtern, deren Name auf »-isten« endete. Das predigte Johannes Baptiste immer wieder. Die Hitleristen vernichteten die Juden, die Faschisten ermordeten die Sozialisten, di e Stalinisten ließen die Staats feinde in Sibirien krepieren, und auch die Kapitalisten waren Vernichter. Sie trieben ihre Konkurrenten in den Ruin und stürzten die Arbeiterfamilien in Not und Elend.
Aber nicht in Baia Luna. Hier hatte meines Wissens noch nie jemand einen anderen vernichtet, es war auch nie irgendwer vernichtet worden. Sicher, die Gebrüder Brancusi waren Kommunisten und spuckten immer satte Töne, man werde die Pfeffersäcke von Großgrundbesitzern und die Schmarotzer der Bourgeoisie noch ausrotten. Das hörte sich schon nach Vernichtung an. Doch Liviu, Roman und Nico Brancusi waren im Grunde keine üblen Kerle. Dass sie wirklich jemanden umbringen würden, war für mich unvorstellbar.
Gewiss gab es im Dorf die eine oder andere Gehässigkeit. Hin und wieder flackerte ein Streit auf, ein hitziges Wortgefecht, das gelegentlich mit einer Rauferei endete. Doch was heute die Gemüter erregte, wurde in der Regel am nächsten Tag mit einem Handschlag beigelegt oder geriet am übernächsten Tag in Vergessenheit. Anzeichen abgrundtiefer Boshaftigkeit und unversöhnlicher Feindseligkeit hatte ich im Dorf nie entdecken können. Mit meinen fünfzehn Jahren schien mir Baia Luna als friedfertiger Ort, in dem die Einheimischen mit den schon vor Jahrhunderten eingewanderten Ungarn und deutschen Sachsen in der stillschweigenden Übereinkunft lebten, einander das Dasein nicht allzu schwer zu machen.
Daran hielten sich auch die Zigeuner. Wenn man über sie sprach, so redeten die Leute, wie in Transmontanien üblich, nur von »den Schwarzen«, obschon es unter den Zigeunern im Dorf ein paar strohblonde Kinder mit blauen Augen gab, die völlig aus der Art schlugen. Im Gegenzug nannten die Zigeuner uns nicht etwa »die Weißen«, sie sprachen von den »Gadsche«, was so viel wie Fremder, aber auch Tölpel oder Dummkopf bedeutete.
Dennoch galten die Schwarzen aus Baia Luna uns Gadschen als arme, aber ehrliche Leute. Sie zählten zum Sippenverband der Gabars. Ihre Vorfahren stammten aus dem Ungarischen. Die Männer trugen schwarze Hosen, schwarze Jacken und breitkrempige schwarze Hüte. Die Frauen kleideten sich in rote Röcke und flochten sich vergoldete Münzen und bunte Bänder in ihre Haarzöpfe. Als Kind hielt ich die unterschiedlichen Farben der Bänder für geschmackliche Willkür, bis ich Buba Gabor auf dem Schulhof nach der Bedeutung der Farben fragte. Die bildhübsche Buba war das einzige Zigeunermädchen im Dorf, das aufgrund ihrer Sturheit und der Fürsprache ihres Onkels Dimitru in der Familie durchsetzte, wenigstens an ungeraden Tagen, montags, mittwochs und freitags, in die Schule zu dürfen. Sie erklärte mir, unter ihresgleichen
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