Wie die Madonna auf den Mond kam
konzentriert. »Schick ihn zur Hölle!« Einen solch wahnsinnigen Auftrag mir, einem Fünfzehnjährigen, ins Ohr zu raunen, das konnte nur eine Verrückte, eine Trinkerin, die ihren Verstand im Zuika ersoffen hatte. Ich, Pavel Botev, sollte diesen Doktor Stephanescu vernichten? Lächerlich! Einen Menschen, den ich nicht kannte und der auf Fotos alles andere als unsympathisch wirkte. Nein. Ich wollte mich von einer umnachteten Frau nicht für ein schmutziges Geschäft einspannen lassen. Niemals.
»Die Barbu hat einen Knall. Stephanescu ist in Ordnung. Ein guter Freund meines Vaters.«
Fritz' Bemerkung klang wie beiläufig dahingeworfen, doch ich horchte auf. Heinrich Hofmann! Mein stiller Argwohn gegenüber dem zwielichtigen Künstlertum von Fritz' Vater fand augenblicklich neue, bittere Nahrung. Mein Misstrauen schwoll an zu einem bösen Verdacht, der jedoch im Dunst stecken blieb, weil ich außer einer gehörigen Portion Abneigung keinerlei Begründung fand, auf die ich mich hätte stützen können. Klar war nur: Die Barbu und Stephanescu hatten einen gemeinsamen Bekannten. Wobei die Bezeichnung Bekannter viel zu schwach war. Fritz' Vater Heinrich war wohl ein Freund von diesem Doktor, und der wiederum war in früheren Jahren der Liebhaber meiner Lehrerin gewesen. Irgendetwas musste zwischen den beiden vorgefallen sein, irgendetwas Unangenehmes, etwas Bösartiges gar, warum sonst hatte die Barbu das Gesicht dieses Mannes, den sie einst küssen wollte, zu Asche verbrannt? Wenn die Barbu mit diesem Kerl noch eine Rechnung offen hatte, na und? Ihre Sache! Aber was hatte Herr Hofmann damit zu tun? Mindestens zweimal hatte er Stephanescu fotografiert, als Studenten und nun als Kronauburger Parteisekretär. Hofmann verkehrte in höheren Kreisen. Er hatte Einfluss. Er verfügte über Macht. Und er hatte mit dieser Macht die Barbu im Visier. Fritz hatte ihr vor den Herbstferien gedroht, sein Vater werde ihr das Leben zur Hölle machen. Die Lehrerin war zu Tode erbleicht. Sie hatte Angst. Aber weshalb? Ich war wach wie nie. Die Neugier hatte mich gepackt.
Plötzlich leuchtete mir ein, weshalb Fritz sein Desinteresse an den Mitschülern in der letzten Zeit damit begründete, seine Tage in Baia Luna seien ohnehin gezählt. »Vater sucht ein Haus in Kronauburg, ein entsprechendes Objekt, und wir sind weg aus diesem Nest.« Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass Fritz seine Worte ernst meinte. Der bloße Gedanke, freiwillig fortzugehen, wäre den Deutschstämmigen wie den Schusters oder den Schneiders nie in den Sinn gekommen. Doch als das Bild von Herrn Hofmanns Freund Stephanescu an der Wand des Klassenzimmers hing, sah ich ein, Fritz hatte die Wahrheit gesagt. Schon bald würde er Baia Luna den Rücken kehren. Ich schaute zu ihm hinüber. Fritz flegelte sich wie immer gelangweilt auf der Holzbank, doch er war für mich kein Vertrauter mehr, sondern ein Fremder. Unnahbar, abweisend. Doch die Kälte der Entfremdung ging nicht allein von Fritz aus. Der entzweiende Graben klaffte in mir selber auf, als sei er immer schon da gewesen und jetzt erst sichtbar geworden.
»Lesebuch Seite elf«, rief die Barbu. »Das Heimatlied von Hans Bohn. Julia, lies du!«
Julia Simenov, die Klassenbeste, erhob sich und sprach mit heller Stimme:
»Ich lieb das Land im Waldkranz der Karpaten, das von Natur so schön ist und so reich.
Das Land der Baugerüste, Heldentaten,
in dem das Heut dem Gestern nicht mehr gleicht.«
Wir mussten die Hefte hervorholen. Während alle, außer Fritz und mir, die Strophen des Heimatliedes zu Papier brachten, lehnte die Barbu hinten an der Wand. Sie zupfte an ihrem blauen Kleid und rieb sich das Kinn, während ich an meinem Stift kaute. Ich bemerkte ihren Vorstoß erst spät. Sie trat an Fritz heran. Sie strich ihm mit der Hand über den Kopf, selbstvergessen und seltsam entrückt. Eher absichtslos, so schien es mir. Ich hörte, wie sie sagte: »Sag deinem Vater, es ist vorbei. Die Barbu hat keine Angst mehr.«
Fritz blickte ihr in die Augen. Spöttisch. Dann stand er von seinem Platz auf und spazierte in aller Seelenruhe zur Schultafel. Er griff ein Stück Kreide und schrieb:
»Haucht die Barbu mir ins Ohr, steht mein Oing wie'n Ofenrohr.«
Mir wurde heiß und kalt. Fritz' Mut imponierte mir, sosehr wie seine Unverschämtheit mich erschreckte. Ich war mir sicher, die Älteren würden gleich losplatzen vor Lachen. Aber es blieb ruhig. In den ersten Reihen fiel ein Bleistift zu Boden. Die Barbu ging
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