Wie die Madonna auf den Mond kam
diejenigen im Dorf, die abends vor dem Rundfunkempfänger hocken und diesem Schreihals aus Berlin zuhören, der verspricht, er werde sie alle heimholen ins Reich.«
Großvater erzählte mir, die jungen Sachsen Karl Koch, Anton Zikeli und der Schneider Hans wären bei der Rede aufgebraust, hätten ihre Gläser gegen die Wand geschmettert und wären um ein Haar gegenüber dem Priester handgreiflich geworden. Was sie später, nach dem Weltkrieg, allesamt bitter bereuen sollten. Damals jedoch warfen die Deutschstämmigen Pater Johannes vor, er mische sich in weltliche Angelegenheiten der Politik ein, anstatt sich als Geistlicher um das Seelenheil zu sorgen. Ein Vorwurf, den Johannes Baptiste nicht auf sich sitzen ließ.
»Entweder Katholik oder Hitlerist! Das eine schließt das andere aus. Himmel oder Hölle! Ihr habt die Wahl. Entweder wir lieben unseren Nächsten wie uns selbst, oder wir vernichten jene, die wir zu unseren Feinden erklären. Und ich sage euch, die Hitleristen werden die schlimmsten Vernichter, die das Böse je hervorgebracht hat. Zuerst werden die Deutschen die Juden umbringen. Dann die Zigeuner. Und dann jeden, der nicht ist wie sie. Die Katholiken werden nicht aufschreien, wenn das Morden beginnt. Sie werden weiter sonntags die Messe besuchen, das Kreuzzeichen schlagen und das Lobet den Herrn singen. Aber nicht mit mir. Ich werde jeden daran erinnern, dass unser Herr Jesu selbst ein Jude war. Hätte sein Volk nicht das schwere Los auf sich genommen, ihn an den Kreuzesbalken zu nageln, wie hätte er uns dann erlösen können? Ohne Golgatha keine Himmelfahrt. Die Geschichte wird zeigen, ob ich irre oder nicht. Und glaubt mir, ich bete jeden Tag, der Herrgott möge mich irren lassen. Selbst wenn ich dann meinen Ungehorsam gegenüber dem Heiligen Vater in Rom mit ewiger Verdammnis werde büßen müssen.«
Nach diesen Worten zweifelte mein Großvater Ilja nie wieder an der Aufrichtigkeit des Gottesmannes. Jeden, der seine Stimme gegen den Benediktiner erhob, verwies Ilja auf der Stelle des Schanklokals. So wurde Johannes Baptiste der respektierteste Pfarrer, der je von der Kanzel in Baia Luna predigte, obwohl er in meiner Jugend seine Bibelfestigkeit schon reichlich eingebüßt hatte. Unvergessen blieb in der Gemeinde die Predigt zur letztjährigen Weihnacht, als er den Judas unter die drei Weisen aus dem Morgenland mischte und zur Krippe von Bethlehem eilen ließ, wo der reuige Verräter seine dreißig Silberlinge samt Zinsen zurückgab.
Die Zigeuner liebten ihren Papa Baptiste. Ihm verdankten sie, dass sie einst nicht aus Baia Luna fortgejagt wurden. Dimitrus Leute tauchten im Spätsommer 1935 im Dorf auf, zu der Zeit, als die Gerüchte um Pater Johannes die wüstesten Blüten trieben. Ihr »Bulibasha«, Dimitrus Vater Laszlo, hatte beim Rat des Dorfes um das Bleiberecht für seine Sippe gebeten. Als ihr Anführer schlug er vor, man könne unterhalb des Dorfes ein Quartier beziehen, am Ufer der Tirnava, wo einige heruntergekommene Stallungen in früheren Jahren dem Hochwasser zum Opfer gefallen waren. Als Entgelt für das Wohnrecht seien die Männer im Sommer bereit, den Bauern bei der Ernte zu helfen. Außerdem verstünden sie sich bestens auf den Umgang mit Gäulen jeglicher Rasse, und nicht zuletzt verbürge er, der Bulibasha Laszlo Carolea Gabor, sich persönlich dafür, dass noch nie jemand aus seiner Familie wegen Diebstahls angeklagt worden sei oder wegen grundloser Volltrunkenheit habe polizeivorstellig werden müssen. Der Rat des Dorfes, gebildet aus vier Einheimischen, vier Ungarn und vier Sachsen, zog sich zu einer kurzen Beratung zurück. Dann teilten sie Laszlo mit, die Zigeuner hätten bis Sonntag zu verschwinden.
Als die Männer, Frauen und Kinder aus Baia Luna zum Kirchgang antraten, waren die Zigeuner noch da. Johannes Baptiste zelebrierte die Messe wie immer. Von Großvater weiß ich, dass der katholische Messordo für diesen Sonntag das Gleichnis von der wundersamen Brotvermehrung und der Speisung der Fünftausend vorsah, doch daran hielt sich der Pfarrer nicht. Er las aus der Weihnachtsgeschichte vor. Vier Monate zu früh. Nur verkündete er nicht die frohe Botschaft von der Geburt des Herrn, sondern die weniger frohe von der verzweifelten Herbergssuche der schwangeren Maria und ihres Kindsvaters Joseph. Zum Eklat kam es, nachdem Johannes Baptiste das Brot und den Wein für die Feier der Eucharistie geweiht hatte. Die Gläubigen erhoben sich und traten nach vorn zur
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