Wie du Ihr
war wirklich ein aufregender Tag. Sogar zwei aufregende Tage, aber das ist es nicht. Ich bin völlig am Ende, aber zu alt, um deshalb in Tränen auszubrechen. Deshalb bleibe ich heute Morgen im Bett und mache das Einzige, was sich richtig anfühlt. Ich schreibe in mein Notizbuch.
Nichts war so, wie es sein sollte. Ich ging von der Bushaltestelle durch eine Stadt, die ich nicht mehr kannte. Natürlich habe ich damit gerechnet, dass vieles zerstört sein würde. Aber man kann sich noch so sehr auf etwas gefasst machen, es sind die Details, die einen umhauen. Ein Lieblingsgeschäft, das nicht mehr da ist, weil es zu nahe am Ufer stand. Ein Haus, das noch steht und völlig intakt aussieht, während das gegenüber einfach weg ist. Wenn ich zum Hafen hinunterblicke, fehlt so viel, dass ich das, was noch übrig ist, kaum noch wiedererkenne. Und überall Baumaschinen, Bagger und Kräne. Und Abrissgeräusche einer Stadt, die ihre Erinnerungen begräbt.
Es war ein Schock, so nah an meinem Zuhause zu sein, das mir gleichzeitig fremd und vertraut war. Plötzlich kamen all die Gefühle der Schwäche in mir hoch, die mein Körper die ganze Zeit verdrängt hatte. Der kurze Anstieg zu unserem Haus kam mir vor wie ein gewaltiger Berg. Ich musste mich an dem alten Holzgeländer, welches das Erdbeben wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden hatte, festhalten, um nicht abzurutschen.
Von vorne sah unser Haus ganz in Ordnung aus. Die ganze Straße schien kaum was abbekommen zu haben. Die Haustür war verschlossen, also ging ich zur Hintertür. Dort sah ich den Schaden. Das Gewächshaus, das Dad mit so viel Liebe gebaut hatte, bevor er uns verließ, war eingestürzt. Im Garten stand unser Zelt, mit dem wir jedes Jahr zum Campen gehen. Es sah traurig und verloren aus.
Die Hintertür war ebenfalls verschlossen, und als ich rief, antwortete keiner. Es war, als wäre ich überhaupt nicht hier. Als wäre ich unsichtbar geworden.
Ich setzte mich auf einen der grünen Gartenstühle und wartete. Plötzlich stiegen ungeahnte Ängste in mir hoch. So sollte das nicht sein. Deshalb war ich nicht mit einem seligen Lächeln aus dem Bus ausgestiegen.
Irgendwann fand mich Duncan. Ich war eingeschlafen und er rüttelte mich wach. Mittlerweile war es Abend.
»Mum! Mum! Marko! Es ist Marko! Marko ist hier!«
Sie kam um die Ecke gerannt und blieb wie angewurzelt stehen. Sie starrte mich ungläubig an. Dann lachten und weinten wir, umarmten uns und weinten wieder. Es gab so viel zu sagen, dass wir gar nicht wussten, wo wir anfangen sollten. Alles, was wir herausbrachten, waren halbe Fragen und unvollständige Antworten. Irgendwann hatte sich Mum wieder so beruhigt, dass sie den Schlüssel aus der Tasche nahm und wir ins Haus gingen. Wir setzten uns ins Wohnzimmer und starrten uns wortlos an.
»Oh«, sagte Mum immer wieder. Dann lächelte sie sonderbar und sah mich an, als könnte sie immer noch nicht glauben, dass ich wirklich da war, und fing wieder an zu heulen. Und ich sagte: »Ich bin so froh, dass ich wieder zu Hause bin.« Und das stimmte auch, wenn auch nicht ganz. Es war nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte. Es war nicht so, als wäre ich einfach nur verschwunden gewesen. Am liebsten hätte ich auch losgeheult. Mum schaffte es irgendwann, zum Telefon zu gehen und Onkel Bruce anzurufen. Sie erzählte ihm alles und bat ihn, sämtliche Leute anzurufen, die es wissen sollten.
Irgendwann fing Duncan an, Geschichten vom Erdbeben zu erzählen. Diese typischen Katastrophengeschichten, die man immer wieder erzählt. Mum wurde ärgerlich und sagte, dass wir darüber jetzt nicht reden wollten. Dass wir lieber über schöne Dinge reden sollten. Und dann saßen wir wieder schweigend da, weil niemandem etwas Schönes einfiel.
Dann kamen die Fragen. Die Fragen, die irgendwann kommen mussten. Aber ich war immer noch nicht richtig bereit. Mum erzählte, dass die anderen vor eineinhalb Wochen zurückgekommen waren. Und dass sie geglaubt hatten, dass ich mich verirrt hätte oder dass ich ... Das Wort hat sie nicht gesagt. Man hatte nach mir gesucht. Wo war ich gewesen? Was war passiert? Ich erzählte die Halbwahrheiten, die ich mir zurechtgelegt hatte. Ich entkam. Ich verirrte mich, lief weiter, fing noch einen Aal, fand Essen in einer Hütte. Irgendwann kam ich an der Küste raus. Ich fand ein Bauernhaus, aber es war keiner da und ein Telefon gab es auch nicht. Ich nahm mir etwas Bargeld und Kleider und fuhr mit dem Bus nach Hause. Als ich ihnen die
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