Wie du Ihr
Dann sagte sie es. Ruhig und bestimmt. Und einmal mehr bebte die Erde unter mir.
»Du weißt, was du tun musst, Marko.«
Niemals. Ich schüttelte den Kopf. Sie war auch da gewesen. Sie hatte ihre Leiche gesehen. Sie war gemeinsam mit mir verfolgt und angegriffen worden. Sie wäre auch fast umgebracht worden. Das konnte nicht ihr Ernst sein. Unmöglich. Ich wollte auf mein Rad steigen und davonfahren, ehe ich hörte, wie sie es sagte.
»Du musst ihn wieder freilassen.«
»Warum?«, hörte ich mich sagen. Ich zitterte und mein Mund war trocken. Sie zitterte auch. Es war nicht fair, dass wir das entscheiden mussten. Wir waren noch so jung.
»Sieh dich doch mal um«, sagte sie. »Verstehst du nicht? Die Welt braucht nicht noch jemanden, der Scheiße baut, Marko. Ohne uns gibt es schon genug Leid auf der Welt.«
»Aber wenn ich zur Polizei gehe, muss ich ins Gefängnis.«
»Du musst ihn wieder freilassen«, wiederholte sie.
»Aber er hat sie umgebracht.«
Ich spürte, wie sie neben mir ganz still wurde, und hörte sie schlucken. Als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich eine Träne auf ihrer Wange. Der Wind wehte sie über ihr Gesicht und blies sie fort.
»Soll ich dir mal sagen, wie es auf Matthews Beerdigung war?«, sagte sie und ich war mir nicht ganz sicher, ob sie das Thema wechselte. Ich war mir bei überhaupt nichts mehr sicher. »Warst du schon mal dabei, wenn ein elfjähriges Kind begraben wird? Sie haben sechs Tage gewartet. Sie haben gewartet, bis ich wieder da war. Und als ich dann zur Beerdigung ging, war ich schrecklich müde und alles fühlte sich so überstürzt an. Ich stand die ganze Zeit unter Schock und kann mich an das meiste nur noch verschwommen erinnern. Es gab so viele Beerdigungen. Für unser Bestattungsunternehmen war es das fünfte Begräbnis an diesem Tag. Alles musste genau nach Plan ablaufen. Als wir aus der Kirche kamen, warteten schon die Nächsten darauf reinzugehen und wichen unseren Blicken aus. In der Kirche war es so voll, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment zu ersticken. Er war erst elf und es kamen so viele Menschen. Wenn ein elfjähriger Junge begraben wird, kann man nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Weil sein Tod einfach sinnlos ist. Dann geht einer nach dem anderen nach vorn und erzählt von den guten Zeiten, obwohl die guten Zeiten für immer vorbei sind. Die Leute sagen: ›Wenigstens war das oder wenigstens haben wir noch das.‹ Und weißt du, woran sie sich am meisten erinnert haben?«
Sie sah mich an, als erwartete sie eine Antwort, dabei kannte ich ihn überhaupt nicht.
»An die kleinen Dinge. An irgendwelche Kleinigkeiten aus dem Alltag, über die man gar nicht nachdenkt. Dass er mal jemanden zum Lachen gebracht oder jemandem einen Gefallen getan hat. Das ist eigentlich nicht viel, findest du nicht auch? Nicht viel, wenn man bedenkt, dass das am Ende von einem übrig bleibt. Und gleichzeitig ist es gerade das, was zählt. Zu dem Schluss bin ich jedenfalls gekommen, als ich in der Kirche saß. Dass wir trotz allem gute Dinge tun können, die irgendwie wichtig sind.«
Dann schwieg sie. Als hätte sie alles gesagt, was es zu sagen gab. Als müsste ich jetzt verstehen. Aber es war nicht mein kleiner Bruder. Ich war nicht in der Kirche gewesen und sie nicht im Krankenhaus. Ich konnte nicht einfach am Gesicht des Arztes vorbeisehen. Ich schüttelte immer wieder den Kopf, bis ich das Gefühl hatte, dass sich alles in mir auflöste.
»Das kann ich nicht, Lisa. Er wollte mich umbringen. Er hat sie umgebracht. Ich kann ihn nicht einfach gehen lassen.«
»Dann kann ich dir auch nicht helfen!«, zischte sie und sprang auf. Sie stürmte zu seinem Grab. Zweite Reihe, drittes von rechts. Ich saß einfach nur da und sah zu, wie sie auf die Knie sank und weinte.
Sie blieb zehn Minuten dort, vielleicht auch länger. Ich versuchte nachzudenken, während sie weg war. Ich versuchte, etwas zu fühlen. Ich versuchte zu verstehen. Aber mein Verstand wollte sich einfach nicht anschalten. Ich war leer und gefühllos. Ein absoluter Versager. Als sie zurückkam, setzte sie sich nicht. Sie stand breitbeinig vor mir, als machte sie sich auf den nächsten Schlag gefasst.
»Du kotzt mich echt an, Marko. Weil ich weiß, dass ich recht habe, und mir einfach nichts mehr einfällt, wie ich dir das noch klarmachen soll. Ich will dir nur noch eins sagen: Ich weiß nicht, warum er versucht hat, uns umzubringen, und ich weiß auch nicht, warum er Ms Jenkins getötet hat. Ich weiß
Weitere Kostenlose Bücher