Wie ein Flügelschlag
einfach stehen und schlenderte zu
mir herüber.
»Du bist neu hier, oder?«
Ich nickte.
»Du siehst ein bisschen verloren aus. Suchst du was?«
So viel Freundlichkeit auf einmal verunsicherte mich total.
Ich schwieg.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
Als ich endlich meine Sprache wiedergefunden hatte, stellte
sich heraus, dass wir in die gleiche Klasse gingen. Und nicht nur
das, Melanie erzählte mir auch, dass sie ebenfalls der Leistungsgruppe
Schwimmen angehörte. Noch am gleichen Tag, während
des Nachmittagstrainings, wurde mir klar, dass ich zum
ersten Mal ernsthafte Konkurrenz bekommen hatte. Melanie
Wieland hatte nicht nur einen sehr sauberen Stil, sie schwamm
auch echt schnell. Ich musste mich richtig anstrengen, um an ihr
dranzubleiben.
So nah unsere Leistungen im Schwimmen auch beieinanderlagen,
so verschieden waren wir sonst. Vermutlich hatte diese
Schule kaum zwei unterschiedlichere Menschen zu bieten
als uns beide. Melanie, der blonde Rauschgoldengel, trug fast
immer weiße oder helle Klamotten. Ich dagegen hatte fast nur
dunkle Sachen, so schwarz wie meine raspelkurzen Haare, die
meist in alle Richtungen von meinem Kopf abstanden. Wo Mel
auftauchte, wurde sie sofort von ihren Fans umringt, die sie umflatterten
wie die Motten das Licht. Ich erkannte schnell, dass
sie diese Bewunderung nicht wirklich genoss. Vielleicht war das
der Grund, warum ich mich von Anfang an zu ihr hingezogen
gefühlt hatte. Melanie nahm es hin, weil es zu ihrem Leben dazugehörte.
Mehr nicht. Sie wirkte auf mich manchmal wie ein
Wesen von einem fernen Planeten, das nur ganz zufällig mitten
in dieses Internat geplumpst war und jetzt eben versuchte, das
Beste daraus zu machen. Und wie aus einer fremden Welt fühlte
ich mich ja auch oft genug. Nur mit dem Unterschied, dass die
anderen mich in der Regel ignorierten.
Manchmal ließ Mel sie einfach stehen und setzte sich zu mir.
Dann wurden wir stets argwöhnisch beobachtet. Es gefiel ihnen
nicht, wenn Mel mit mir sprach. Auch jetzt folgten ihr wieder
die Blicke von Nora und Bea, als sie an meinem Tisch Platz genommen
hatte.
»Hast du Mathe schon?«, fragte sie.
Ich nickte. Klar, hatte ich. Ich zog das Heft aus dem Rucksack
und schob es ihr rüber.
»Danke!« Sie freute sich wirklich. »Ich hab gleich noch Theater-
AG, da schaff ich Mathe nicht mehr. Ist echt nett von dir.«
»Kein Problem. Was spielt ihr in diesem Jahr?«
»Das Leben ein Traum«, sagte Melanie und steckte mein
Matheheft ein.
Ich verstand nicht.
»›Das Leben ein Traum‹ von Calderón de la Barca, das spielen
wir.« Sie stand auf. »Handelt von einem Vater, der seinen
Sohn in einen Turm sperrt, um ihn von der Welt fernzuhalten.
Oder die Welt von ihm. Wie im echten Leben halt. Komm doch
mal zu den Proben und schau's dir an.«
»Wie im echten Leben? Sperrt dich dein Vater auch in einen
Turm? Vielleicht bist du Rapunzel?« Ich lachte.
»Okay, der Turm ist ein großes Haus. Aber ich fühle mich
trotzdem oft eingesperrt.« Sie klang traurig, als sie das sagte.
»Dann müssen wir dringend einen Prinzen für dich finden,
der dich befreit.« Ich zwinkerte Mel zu. Aber sie zuckte nur mit
den Schultern. Dann ging sie.
Ich schob die letzten Nudeln auf die Gabel. In einem Turm
lebte Melanie sicher nicht. Eher in einer Villa. Draußen am
Stadtrand. Ihr Vater war Arzt und als stellvertretender Leiter des
Stadtklinikums ein richtig hohes Tier.
»Hey!«, rief Bea. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie Jonas
einen Stoß versetzte. »Hey, zeig uns mal 'ne ordentliche Wende,
Mann!« Jonas torkelte gegen meinen Tisch. Riss das Glas um.
»Verdammt!« Ich sprang auf, aber es war schon zu spät.
»Hast du keine Augen im Kopf?«
»Hey, pass auf, was du sagst.« Jonas Matthies war einen Kopf
größer als ich, und obwohl wir jetzt schon ein halbes Jahr in der
gleichen Klasse saßen, wusste ich fast nichts über ihn. Mit seinem
breiten Brustkorb und den kurz rasierten dunklen Haaren
hätte er gut in eine amerikanische Footballmannschaft gepasst,
tatsächlich gehörte er aber ebenfalls zu den Schwimmern. Er
stand wie alle hier auf Mel, das war nicht zu übersehen, aber bisher
hatte sie seine Annäherungsversuche einfach ignoriert.
Fluchend versuchte ich, den Orangensaftsee mit meiner Serviette
vom Tisch zu wischen, machte aber alles nur noch schlimmer.
Umziehen konnte ich mich jetzt auch gleich noch einmal.
»Du kannst doch schwimmen, was regst du dich so auf?«,
feixte Nora.
»He, Leute, was soll das?« Tom fummelte
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