Wie ein Flügelschlag
ein Päckchen Taschentücher
aus seinem Rucksack und reichte es mir. »Lasst sie
in Ruhe. Jana kann doch nichts dafür, dass Drexler sich wie ein
Idiot benimmt.«
Ich tat so, als hätte ich die Taschentücher nicht gesehen.
Nicht, weil ich Tom nicht mochte. Er war in Ordnung. Aber ich
wollte nur weg hier. Ich hatte im Moment keinen Bedarf, noch
mehr Zeit mit Bea, Nora und Co. zu verbringen. Rasch räumte
ich meinen Kram zusammen, schnappte das Tablett und schob
mich an den anderen vorbei.
Im Hof sah ich Melanie mit Bernges sprechen. Er unterrichtete
Deutsch und Latein. Früher war ich nie besonders gut in
Deutsch, aber seit ich Bernges als Lehrer hatte, war es mein
Lieblingsfach geworden. Neben Sport natürlich.
Langsam näherte ich mich den beiden. Soweit ich wusste, war
Bernges erst kurz vor mir an diese Schule gekommen. Manchmal
schien es mir, dass er der Außenseiter unter den Lehrern
war. Er saß oft allein am Tisch, während die anderen in Grüppchen
zusammenstanden. Schon dadurch fühlte ich mich zu ihm
hingezogen. Aber ich war nicht die Einzige, die ihn mochte. Obwohl
er noch neu hier war, wurde er gleich im ersten Schuljahr
von den Schülern zum Vertrauenslehrer gewählt. Seine Art, mit
den Leuten zu reden, gefiel allen, nicht nur mir. Ich hätte ihn
gern meiner Mutter vorgestellt. Am Tag der offenen Tür vor
den Weihnachtsferien wollte ich ihr die Schule zeigen und vor
allem sollte sie Bernges kennenlernen. Aber meine Mutter kam
nicht.
»Ich denke nicht daran, mich auch noch bei den Leuten zu
bedanken, die mir mein Kind weggenommen haben«, sagte sie
und damit war das Thema für sie erledigt.
»Soll ich noch mal mit deinen Eltern sprechen?« Fragend
blickte Bernges Melanie an.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich krieg das
schon hin.« Melanie stopfte einen Stapel Papier in ihren Rucksack.
Sie sah kurz zu mir rüber, um gleich wieder wegzuschauen.
Mel sprach nicht gern über ihre Eltern. So viel wusste ich schon.
Wenn Bernges mit ihnen reden wollte, ging es sicher um die
Theater-AG. Melanie hatte mir einmal anvertraut, dass ihr Vater
alles andere als erbaut davon gewesen war, dass sie eine der
Hauptrollen bei der nächsten Aufführung spielen sollte. Aber
Melanie hatte sich durchgesetzt. Und jetzt gab es offensichtlich
wieder Stress.
Ich wollte einen großen Bogen um die beiden machen, doch
Bernges winkte mich zu sich heran.
»Hallo, Jana, kein Training mehr heute?«
Ich schüttelte den Kopf. Drexler hatte das Nachmittagstraining
abgesetzt und überließ es uns, ob wir noch mal ins Wasser
wollten. Normalerweise hielt mich nichts vom Schwimmtraining
ab, aber ich hatte mitbekommen, dass Nora und die anderen
sich zum Wasserballspielen verabredet hatten, und darauf
hatte ich keine Lust.
»Wenn du nichts anderes vorhast, kannst du gern mit Melanie
zu den Theaterproben kommen. Wir benötigen immer Helfer.
« Bernges lächelte.
»Ich bin keine gute Schauspielerin. Ich kann ja nicht mal meinen Lehrern was vorspielen.« Eigentlich sollte das ein Witz sein.
Aber niemand lachte.
»Du brauchst ja keine Rolle zu übernehmen. Die wichtigsten
Rollen sind sowieso erst mal verteilt. Aber da ist noch viel anderes
zu tun: Bühnentechnik, Beleuchtung, Ton, Kulisse. Solche
Sachen halt.«
»Jana kann supergut malen«, mischte Melanie sich ein.
»Wirklich? Solche Leute brauchen wir noch dringend. Für
die Bühnenbilder.« Auffordernd sah Bernges mich an.
Ich zuckte mit den Schultern. Es stimmte, ich malte ganz gern.
Bisher hatte ich angenommen, dass das niemanden interessieren
würde. Schließlich waren wir hier, um zu trainieren, und
nicht, um Künstler zu werden. »Ich denke mal darüber nach. In
Ordnung?«
Bernges nickte. »Einverstanden. Muss ja nicht gleich sein. So
richtig loslegen wollen wir sowieso erst im zweiten Halbjahr,
nach den Zeugnissen. Nur die Hauptrollen müssen ein bisschen
früher anfangen, schließlich haben sie ziemlich viel Text zu lernen.
« Er zwinkerte Melanie zu.
Unsicher trat ich von einem Fuß auf den anderen und schaute
weg. Die Vertraulichkeit zwischen den beiden war mir unangenehm.
Sie verstärkte mein Gefühl, nicht dazuzugehören.
»Sag deinem Vater einen schönen Gruß. Das nächste Mal
brauche ich dich aber wieder bei den Proben.«
Wieder zuckte Melanie zusammen, als Bernges ihren Vater
erwähnte. »Ja danke. Werde ich ausrichten. Bis morgen dann.«
Sie winkte mir kurz zu, dann drehte sie sich um und ging.
Ich wollte weiter zum Wohntrakt, aber Bernges hielt
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