Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
Vom Netzwerk:
sprang aus dem Jeep. Er blickte sich um: ein deutscher Bauernhof mit Wohnhaus, Stallungen und Scheune. Ungewöhnlich
war höchstens, dass es kein Dorf gab. Das Gehöft lag mitten in der Landschaft aus Kornfeldern, in die hier und da kleine Wäldchen wie Inseln gestreut waren. Die vier Panzer, die in einer losen Reihe auf dem Hof zum Stehen gekommen waren, hatten die Motoren abgestellt. Die aufgemalten roten Sterne auf den Fahrzeugen glänzten matt in der Abendsonne. Für einen kurzen Augenblick war es still. In einer kleinen Birkenschonung
hinter der Scheune keckerte ein Eichelhäher. Alles wirkte unendlich friedlich, ein perfekter Frühlingsabend.
    Sirinows Adjutant, Leutnant Wassilij Tarassow, war ausgestiegen
und trat neben den Oberst. Er sah aus wie ein Zwölfjähriger,
ein richtiges Milchgesicht. »Wie sauber das alles ist«, sagte er. »Warum überfällt man seine Nachbarn, wenn es einem so gut geht?«
    »Vielleicht, weil es einem zu gut geht.«
    »Das ist absurd.«
    »Dieses ganze Land hier ist absurd.«
    Aus den Luken der Panzer kletterten jetzt weitere Soldaten mit gepolsterten Hauben. Im Tor des großen Stallgebäudes erschien ein rotgesichtiger Feldwebel. »Nicht mal ein Huhn haben sie hiergelassen, Genosse Oberst!«, rief er.
    »Wen wundert's«, sagte Sirinow mehr zu sich selbst. Er stapfte auf das Bauernhaus zu und Tarassow folgte ihm.
    In der lang gestreckten Diele war es dunkel und kühl. Sirinow
schaute sich etwas unschlüssig um, dann öffnete er wahllos
eine Tür. Ein Wohnzimmer mit grünem Teppich, Sofagarnitur
und einem leer geräumten Vitrinenschrank empfing sie. »Da hast du noch so eine Absurdität«, sagte Sirinow über die Schulter zu Tarassow. »Bei uns brennen sie auf dem Rückzug alles ab und ihre eigenen Häuser hinterlassen sie uns besenrein.
«
    Er ließ sich in einen der Sessel fallen und fühlte sich plötzlich
todmüde. »Schau mal nach, ob du hier Kaffee auftreiben kannst«, sagte er.
    Tarassow nickte und verschwand.
    Draußen fuhren zwei Lastwagen vor und parkten neben den Panzern. Überall auf dem Hof wimmelte es jetzt von Leuten. Sirinow sah sich im Raum um. Eine offene Tür führte in ein ebenso aufgeräumtes Esszimmer. Daneben stand ein Bord mit einem Grammophon, darunter ein paar Schallplatten. Sirinows
Neugier war stärker als die Müdigkeit. Ächzend stand er wieder auf und blätterte durch die Platten. Die Bewohner des Hauses waren offenbar Freunde des erlesenen Genusses. Ungewöhnlich
für ein Bauernhaus, dachte Sirinow, dann fischte er Beethovens drittes Klavierkonzert aus der Schatulle, legte es auf, schaltete das Grammophon ein und setzte sich wieder.
    Es knackte ein paar Mal. Der Oberst schloss die Augen. Als die ersten Töne des Klaviers durch den Raum tänzelten, begann die Anspannung des Tages von Sirinow abzufallen. Die Holzbläser folgten schüchtern, nahmen das Thema kurz auf und gaben wieder an das Klavier ab, das übermütig mit der Melodie spielte und dann ein Portal aufriss, durch das das ganze Orchester in prahlender Feierlichkeit hereinplatzte. Die Streicher wurden mit einem Wink zum Thema gebracht. Das Klavier trabte kurz mit, ließ die Streicher dann stehen und fegte eine Weile virtuos allein über die Bühne.
    Sirinow war so versunken in die Musik, dass er gar nicht hörte, wie Tarassow den Raum wieder betrat. Als sein Adjutant
ihn am Arm berührte, schreckte er hoch.
    »Was gibt's?«, fragte er unwirsch.
    »Wir haben gerade eine Meldung reinbekommen, die Sie interessieren wird, Genosse Oberst«, sagte Tarassow.
    Sirinow zog eine Augenbraue hoch. Der Leutnant neigte sich zu ihm herab, als fürchtete er unerwünschte Lauscher. Im Hintergrund trieb das Klavier die Streicher vor sich her.
    »Sommerbier hat heute Nacht in Weimar aufladen lassen«, sagte Tarassow. »Unser Mann vor Ort hat alles beobachtet. Es besteht kein Zweifel. Achtundzwanzig Kisten.«
    Sirinow war wie elektrisiert. »Verdammt!«, zischte er. »Was hat er denn vor? Will er alles in die Alpenfestung bringen?« Er trommelte mit den Fingern auf der Sessellehne, dann blickte er Tarassow direkt in die blauen Kinderaugen. »Oder ein Kuhhandel
mit den Amerikanern?«
    Der Leutnant lächelte dünn. »Keins von beidem. Sommerbier
und ein Begleiter, den unser Mann nicht kannte, sind noch in der Nacht in Richtung Berlin aufgebrochen. Sie handeln ganz offensichtlich auf eigene Faust. Aber bis das in Weimar oder sonst wo jemand gemerkt hat, dürften sie vom Erdboden verschwunden sein. Die Situation ist

Weitere Kostenlose Bücher