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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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Theaterspielen für sie das, was für mich das Schwimmen
war.
    »Habt ihr Lust auf einen Kakao?« Tom hatte ich komplett
vergessen.
    »Klar, warum nicht. Wenn du ihn spendierst.« Melanie hakte
sich bei Tom unter. »Aber nur, wenn Jana auch mitkommt.«
    »Na klar kommt Jana mit.« Tom bot mir seinen freien Arm
an. »Darf ich bitten?«
    Ich zögerte. Einerseits war die Aussicht auf einen heißen
Kakao jetzt mehr als verlockend. Aber mein Taschengeld für
diesen Monat war schon lange aufgebraucht, und es war mir
peinlich, das zuzugeben. Ich war mir nicht sicher, ob Toms Einladung
auch mir gegolten hatte. Dann sah ich, wie Melanie mich
anlächelte und mir aufmunternd zunickte. Ich gab mir einen
Ruck und hakte mich ebenfalls bei Tom unter.
    Später dachte ich oft, dass das der einzige Moment war, in
dem wir als Freundinnen völlig unbeschwert waren. Weit weg
vom Training und jeglichem Druck.
    Wir brachten dem Hausmeister seinen Besen zurück, verließen
das Schulgelände und gingen zum
Zeitlos
. Das
Zeitlos
ist ein
Café direkt gegenüber vom Internat, das vermutlich schon existierte,
als Melanies Vater noch die Schule besuchte, zumindest
wenn man den vergilbten Fotos an den Wänden glauben durfte.
Alles hier war alt. Die Fotos, die Tische, die Stühle und sogar
die Tapete an den Wänden. Keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen
war, ein Café neben einem Sportgymnasium
Zeitlos
zu
nennen.
Zeitlos
war hier wirklich niemand. Im Gegenteil. Vermutlich
wurde nirgendwo sonst so viel gegen die Zeit gekämpft
wie bei uns. Sein Überleben verdankte dieses Café garantiert
nur den Hunderten von Sportschülern, die hier im Laufe der
Jahre entweder ihre Rekorde gefeiert oder ihre Niederlagen in
Kakao ertränkt haben.
    Wir fanden einen kleinen runden Tisch am Fenster. Es war
ziemlich voll und auch laut. In der Luft hing die Feuchtigkeit nasser
Winterjacken wie ein Nebel, durch den Gesprächsfetzen von
allen Seiten drangen. Fast jeder Tisch war besetzt, und hin und
wieder sah ich ein Gesicht, das ich vom Schulhof kannte. Melanie
wurde zwei- oder dreimal mit einem »Hallo, Mel!« begrüßt.
Aber wenigstens waren Nora und die anderen nicht hier. Als
die Bedienung an unseren Tisch kam, bestellte Tom drei heiße
Kakao mit Sahne, dann verschränkte er die Arme hinterm Kopf
und lehnte sich gemütlich zurück. Sein Stuhl ächzte gefährlich.
    »Warum bist du eigentlich nicht beim Wasserballspiel?«
    In dem Moment, als Melanie sich mit ihrer Frage an Tom
wandte, fiel es mir wieder ein, wo die anderen jetzt waren.
    »Weil ich dann nicht mit den beiden berühmtesten Schülerinnen
unserer Schule Kakao trinken könnte.«
    Ich verdrehte die Augen und auch Melanie verzog das Gesicht.
War das jetzt einfach eine plumpe Anmache oder was
sollte der Spruch?
    »Ach, hör doch auf«, winkte sie ab. »Berühmt. Wir sind nicht
berühmt, und ich persönlich lege auch keinen gesteigerten Wert
darauf, es zu werden.«
    »Musst du ja auch nicht mehr, bist du ja eh schon.« Mel
wollte protestieren, aber Tom redete einfach weiter: »Du trainierst
mehr als jeder andere von uns. Okay, Jana ausgenommen.
Du hast irre viel Talent. Wenn du so weitermachst, landest du
demnächst im deutschen Kader, und dann ist es zu Olympia nur
noch ein winziger Schritt.«
    Der Kakao wurde serviert und ich legte meine klammen Finger
dankbar um die bauchige heiße Tasse. Erst jetzt merkte ich,
wie kalt mir wirklich war.
    Tom war noch nicht fertig. »Warum um alles in der Welt solltest
du dir diesen Stress sonst antun?«
    Melanie steckte ihren Löffel mit so viel Schwung in die Sahne,
dass feine weiße Sprenkel den Tisch überzogen.
    »Frag doch mal Jana, warum sie so verbissen trainiert. Sie ist
viel öfter im Wasser als ich und mindestens genauso talentiert.«
    Erwartungsvoll sahen Tom und Melanie mich an. Ich nahm
schnell einen Schluck von dem heißen Kakao, um nicht gleich
antworten zu müssen. Warum trainierte ich so viel? Sicher nicht,
um berühmt zu werden. Aber obschon ich die Antwort wusste,
schwieg ich. Ich wollte nicht darüber sprechen. Sie würden es
ohnehin nicht verstehen.
    Seit ich schwimmen gelernt hatte, fühlte ich mich frei. Zu
schwimmen gab mir das Gefühl, nicht mehr eingesperrt zu sein,
gefangen in falschen Erwartungen, in einem Leben, das nicht
meins war. In dem Moment, in dem ich ins Becken gleite, fällt
alles von mir ab. Dann gibt es nur noch mich und das Wasser.
Manchmal träume ich davon, immer weiter schwimmen zu
können, einfach geradeaus, ohne Beckenrand,

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