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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Feireiss
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kommt ihm der Gedanke, dass er seine Tochter nie gefragt hat, ob sie sich ein Leben mit dem von ihm ausgewählten Ehekandidaten überhaupt vorstellen könne. Ob sie glaubt, ihn einmal lieben zu können. Mein Urgroßvater verweilt lange am Krankenbett seiner Tochter und begreift allmählich die subtilen Verstrickungen zwischen Körper und Seele. Jula ist das damals nicht bewusst. Sie hätte es sich vermutlich auch nicht eingestanden. Mein Urgroßvater löst die Verlobung, und seine Tochter findet langsam wieder ins Leben zurück.
    Es ist das Benediktinerkloster, dessen Mönche meiner Großmutter Jahrzehnte später regelmäßige Besuche abstatten, in dem sie ihrem zukünftigen Mann zum ersten Mal begegnet. Jula, von ihrer Krankheit langsam genesen, sitzt in der ersten Reihe, wenn sie sonntags das Hochamt besucht. Dort ist für Kommerzienrat Lang und seine Familie eine ganze Kirchenbank reserviert. Doch er selbst ist selten dabei, meist wird Jula von der Haushälterin Marie und den Schwestern begleitet. Verstohlen betrachtet Jula auf dem Weg zu ihrer Kirchenbank den Mann, der in der Reihe hinter ihr Platz genommen hat. Er erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie hat das Gefühl, dass auch er sie beobachtet. Auf dem Nachhauseweg folgt ihr der Unbekannte in angemessenem Abstand. In der Erinnerung meiner Großmutter hat es Monate gedauert, bis geschieht, was dann geschieht. Auf dem Weg von der Kirche nach Hause verliert Jula, in einiger Entfernung von ihrem unbekannten Verfolger, einen ihrer Handschuhe. Jahrzehnte später ist es ihr, von mir hartnäckig danach befragt, unmöglich zu sagen, ob sie den Handschuh mit Absicht hat fallen lassen.
    Ich glaube, das Unterbewusstsein hat bei meiner Großmutter wieder einmal die Hand im Spiel. Auch was ihr Verfolger damals gedacht hat, ist nicht übermittelt. Sicher aber ist: Er hat seine Chance genutzt. Er hebt den Handschuh auf und reicht ihn meiner Großmutter. Das ist der erste Schritt auf seinem Weg, mein Großvater zu werden.
    Aus dieser Zeit stammt ein liebevoll gezeichnetes Porträt meiner Großmutter. Es ist eine Kohlezeichnung. Julas Gesicht wirkt zeitlos schön und voller Ebenmaß, auch wenn ihre Ohren mit den langen Ohrläppchen ungewöhnlich groß sind. Sie haben mich als Kind beunruhigt, weil solchen Ohren nichts entgeht. Die Augenbrauen sind dicht und am Nasenansatz buschig, die Nase selbst ist lang und bestimmt die Gesichtszüge. Auch die schön geschwungenen Lippen sind, wie alles in diesem Gesicht, etwas überdimensioniert. Was jeden, der meiner Großmutter zum ersten Mal begegnet, und auch meinem Großvater wird es damals nicht anders ergangen sein, fasziniert, sind ihre großen graugrünen Augen. Sie können in allen Schattierungen lächeln, liebevoll und sanft, verschwörerisch und wissend, ironisch und romantisch. Die Augen meiner Großmutter können auch weinen, ohne dass eine Träne unter ihren Lidern hervorquillt. In diesen Augen liegt der Himmel.
    Wenn ich dagegen das Foto meines Großvaters Josef Carl Neckermann betrachte, das während meiner Würzburger Kindheit auf dem Bücherregal im Wohnzimmer steht, fällt es schwer, ihn mir in der romantischen Szene ihrer ersten Begegnung vorzustellen. Doch es gibt ein Indiz dafür, dass auch ihm große Gefühle nicht fremd sind. In dem Bilderrahmen mit seinem Porträt steckt ein gepresstes Edelweiß, das Josef Carl unter Einsatz seines Lebens auf einer Bergtour für seine Frau gepflückt hat. So jedenfalls hat es mir meine Großmutter erzählt, und ich wage nicht, daran zu zweifeln. Im Allgemeinen aber ist Großvater Neckermann preußisch streng, unnahbar und pflichtbewusst, und so sieht er auch aus. Er hat, wie Goethes »Wilhelm Meister«, etwas »Gehaltenes, Beherrschtes, Gemessenes«. In meiner eher nüchternen Betrachtung sieht er aus, als hätte er einen Stock verschluckt. Als Kind flößt mir das Foto von Großvater Neckermann Angst ein, und ich bin froh, dass ich meine Großmutter nicht mit ihm teilen muss.
    Dem Leben in ehelicher Gemeinschaft entspringen in angemessenem Abstand drei Kinder: 1909 die Tochter Maria-Barbara, Mady genannt, drei Jahre darauf Sohn Josef, für den seine Mutter keinen Kosenamen hat, und schließlich 1914 Walter, das Nesthäkchen, den sie liebevoll Walti nennt. Die Ehe ist für meine Großeltern ein nicht versiegender Quell der Liebe und der Freude, ein Abonnement auf immer währende Harmonie ist sie nicht. Meinungsverschiedenheiten gibt es in politischen Fragen, aber nur dann, wenn es sich

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