Wie ein Haus aus Karten
allerdings auch eines Teils ihres ursprünglich üppigen Vermögens. Sie hat nicht verhindern können, dass ihr Mann Kriegsanleihen aufgenommen, sich verspekuliert und damit das schwiegerväterliche Vermögen erheblich dezimiert hat. Was ihr bleibt, und das ist nicht wenig, verdankt sie vor allem der Tatsache, dass sie die wirtschaftlichen Fähigkeiten ihres Mannes realistisch eingeschätzt und rechtzeitig entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Geschickt und unbemerkt legt sie schon zu seinen Lebzeiten größere Geldbeträge zur Seite, und es gelingt ihr auch, einige Mietshäuser, die sich in ihrem Besitz befinden, seinem Zugriff zu entziehen. So kann sie ihren Kindern ein stattliches Erbe sichern und verfügt zudem über genügend Mittel, um ihrer über die rechte Mainseite Würzburgs hinaus gerühmten Mildtätigkeit freien Lauf zu lassen. In einer Zeit, in der das Leben in Deutschland noch ganz unter patriarchalischem Vorzeichen steht, ist meine Großmutter Lang eine erstaunlich selbstbewusste und unabhängige Frau.
Am 17. Juni 1937 erliegt sie wie ihr Mann einem Herzinfarkt. Sie ist auf dem Rückweg von Exerzitien im Kloster Himmelspforten, als sie auf der Straße zusammenbricht. Jede Hilfe kommt zu spät. Als praktizierende Katholikin hätte sich Großmutter Lang wohl keinen schöneren Tod wünschen können. In der Erinnerung meines Cousins Helmut Knab, des Sohnes meiner Tante Greta, sieht sie in ihrer schwarzen, plissierten Bluse auf dem Totenbett so friedlich aus, dass er glaubt, sie schlafe nur.
Wie meine Großmutter Lang stammt auch meine Großmutter Neckermann aus einer wohlhabenden, alteingesessenen Würzburger Familie. Ihre Mutter, die wie sie den Vornamen Jula trägt, wird am 12. Februar 1840 geboren. Es ist dasselbe Jahr, in dem auch ihr späterer Mann, der königlich bayerische Kommerzienrat Franz Josef Lang, zur Welt kommt. Meine Urgroßeltern führen eine glückliche, partnerschaftliche Ehe. Doch sie ist nur von kurzer Dauer. Meine Urgroßmutter stirbt mit vierundvierzig Jahren und hinterlässt fünf Töchter, von denen ich nur vier Namen in Erfahrung bringen kann: Franka, Toni, Thea und Jula, meine spätere Großmutter.
Jula ist die Jüngste. Als ihre Mutter stirbt, ist sie fünf Jahre alt. Ihr Vater, Kommerzienrat Franz Josef Lang, nicht verwandt mit der Familie meines Vaters, ist Inhaber einer Sektkellerei in Würzburg. Die unterirdischen Weinlager sind so groß, dass während des Ersten und Zweiten Weltkriegs mehrere Hundert Menschen darin vor den Bomben Zuflucht finden. Über den unterirdischen Gewölben befindet sich das Grundstück am Friedrich-Ebert-Ring. Es liegt an einem Grüngürtel, der sich bis zur Residenz erstreckt. Die Sandsteinmauer des Anwesens ist so hoch, dass Jula als Kind das Gefühl hat, von einem Burgwall aus in die Tiefe zu blicken. Die überlebensgroßen steinernen Löwen, die das Firmenwappen der Sektkellerei meines Urgroßvaters majestätisch einrahmen, bewachen das Paradies ihrer Kindheit, das auch zum Paradies meiner Kindheit wird.
So behütet und wohlbestellt diese Welt auch ist und sosehr sich mein Urgroßvater Franz Josef bemüht, neben der Leitung der Sektkellerei immer wieder Zeit für seine Jüngste zu finden, Julas Kindheit und Jugend sind dennoch überschattet vom Verlust der Mutter. Für die Betreuung des Nesthäkchens und der älteren Schwestern stellt mein Urgroßvater eine Haushälterin aus dem fränkischen Umland ein, die den Mädchen keine Schul-, wohl aber Herzensbildung vermittelt. Sie heißt Marie Ullrich und ist vier Jahre älter als die verstorbene Mutter. Für die Mädchen ist die Anwesenheit der ruhigen, liebevollen Frau, die immer im Hintergrund bleibt und doch im ganzen Haus Wärme und Geborgenheit verbreitet, eine glückliche Fügung. Die Jüngste hängt mit besonderer Zuneigung an ihr. Wie im Leben ist die Haushälterin Marie auch im Tod Teil der Familie geblieben. Als sie mit 95 Jahren, fast zwanzig Jahre nach meinem Urgroßvater, stirbt, wird sie im Familiengrab beigesetzt.
Mein Urgroßvater muss nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer gewesen sein, sondern auch ein besonders liebevoller, großherziger Mensch. Eine Aufnahme zeigt ihn auf den Stufen seines Hauses sitzend, auf dem Schoß seine jüngste Tochter. Auf diesem Foto ist er Ende vierzig, und doch erweckt er den Eindruck, als wäre er der Großvater und nicht der Vater des kleinen Mädchens auf seinen Knien. Seine Statur wirkt behäbig, fast gedrungen, sein Gesicht ist
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