Wie es uns gefällt
Lamb
Anfangs war de Quincey erstaunt und entsetzt gewesen, doch kaum waren diese Gefühle verebbt, legte er sich vollständig bekleidet aufs Bett und betrachtete die Zimmerdecke. Dann rief er laut: «Wirklich, eine prächtige Geschichte!»
Eine Woche später trat im Oberstock eines Wirtshauses in Holborn die Untersuchungskommission für fragwürdige Todesfälle zusammen. Charles war bereits früh eingetroffen und saß in der ersten Reihe. In dem Amtszimmer drängten sich Nachbarn und Gaffer, die unbedingt mit eigenen Augen sehen wollten, wie sich «die unglückliche junge Frau» benehmen würde, wie sie die Westminster Gazette bezeichnet hatte. Einen solchen Mord hatte es in Holborn noch nie gegeben.
Der Bezirksbüttel brachte Mary mit Unterstützung seines Stellvertreters und eines Arztes vor die Kommission. Dieser Arzt leitete in Hoxton eine private Irrenanstalt, wo Mary derzeit inhaftiert war. Mit trauriger Miene befolgte sie gefasst die Anweisungen des Büttels und des Arztes, was ihr allgemeines Mitgefühl eintrug. Nachdem man der Kommission den Ablauf der Ereignisse vorgelesen hatte, wurde der Arzt, Philip Girtin, vom Vorsitzenden der Kommission befragt. Laut Aussage des Arztes hatte er die junge Frau dreimal untersucht und war dabei zu dem Schluss gekommen, dass sie zum Zeitpunkt des Mordes an ihrer Mutter nicht zurechnungsfähig gewesen sei. Ihre geistige Zerrüttung sei «auf ein übersensibles Gemüt» zurückzuführen, das «unter den ermüdenden Strapazen allzu vieler Pflichten» zusammengebrochen sei. Der Name William Ireland fiel dabei nicht.
«Ist sie im weitesten Sinn verhandlungsfähig?», wollte der Vorsitzende von ihm wissen.
«Ganz gewiss nicht, Sir. Ein derartiges Martyrium würde sie nicht überstehen. Dadurch würde sie noch tiefer in den Wahnsinn gestoßen, aus dem es dann wohl kaum mehr ein Entrinnen für sie gebe.»
Mary saß die ganze Zeit über mit im Schoß gefalteten Händen da und schaute ab und zu Charles mit ausdrucksloser Miene an.
«Was würden Sie vorschlagen, Doktor Girtin?»
«Ich hielte es für das Beste, wenn man diese Unglückselige meiner Obhut in Hoxton anvertrauen würde. Obwohl ich nicht glaube, dass sie für andere eine Gefahr darstellt, schlage ich vor, sie so lange in Gewahrsam zu halten, wie ich es für nötig erachte.»
«Für den Fall – »
«Sich selbst könnte sie immer noch gefährlich werden.»
Die Kommission schloss sich dem ärztlichen Urteil an. Mary wurde der Obhut von Philip Girtin unterstellt. Wie bei diesem Verfahren üblich, fesselte man ihr die Arme seitlich mit einem Lederriemen an den Oberkörper.
Beim Verlassen des Wirtshauses befürchtete Charles, er würde seine Schwester nie mehr jenseits der Mauern eines Irrenhauses sehen. Erst auf dem Rückweg zur Laystall Street merkte er, dass er geweint hatte.
Charles’ Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Unter der Fürsorge von Philip Girtin besserte sich Marys Geisteszustand allmählich. Der Arzt las ihr aus Gibbon und Tyndale vor. Dabei bildete sie sich ein, sie würde sich wieder mit ihrem Bruder unterhalten. Um neben ihrer sprachlichen Begabung auch ihre mathematischen Fähigkeiten zu testen, spielte Girtin mit ihr Cribbage und Primero. Allmählich begann sie, mit ihm über die homerischen Epen zu diskutieren, und zitierte mit großem Vergnügen Shakespeare.
Der Arzt hatte Charles jeden Besuch verboten, weil er allzu schmerzhafte Assoziationen befürchtete, aber nach dreimonatiger Isolierung bat er ihren Bruder um einen Besuch in Hoxton. Von Girtins Arbeitszimmer hatte man einen Blick auf den Garten, wo Mary und die anderen Patienten saßen.
«Ich komme soeben aus dem Innenministerium», erklärte Girtin seinem Besucher. «Ich hatte wegen Ihrer Schwester ein Gespräch mit dem für Nervenheilanstalten zuständigen Staatssekretär. Er teilt meine Meinung, dass wir sie Ihnen getrost überantworten dürften, wenn Sie sich verbindlich verpflichten, sie lebenslänglich in Ihre Obhut zu nehmen.»
«Selbstverständlich. Das ist das Mindeste – »
«Dazu muss ich Sie bitten, Ihre Schwester zwei Wochen lang jeden Abend hier zu besuchen. Ich muss wissen, ob Sie sie zu sehr aufregen.»
«Sie wird sich durch mich wieder erinnern?»
«Ganz genau. Aber wenn dieser Test gut ausgeht, woran ich fest glaube, dann werden wir sie in naher Zukunft entlassen können. Alles muss ruhig und geordnet vor sich gehen, Mr Lamb.»
Charles betrachtete sie durchs Fenster. Mary nähte
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