Von Ratlosen und Löwenherzen
Kapitel 1
Worüber reden wir hier eigentlich?
Wenn man sich daran begibt, eine Geschichte des Mittelalters zu schreiben – oder zu lesen –, ist es vielleicht nicht das Dümmste, zuerst einmal zu fragen, was denn eigentlich »das Mittelalter« ist. Die Antwort ist ganz einfach: Niemand weiß es. Jedenfalls nicht so genau.
Der so oft und immer wieder erfolglos definierte Begriff kam schon im 14. Jahrhundert auf, obwohl das Mittelalter zu der Zeit kurioserweise noch gar nicht vorüber war. Ausgedacht haben sich dieses Wort die Humanisten, die der unbescheidenen, aber zutreffenden Auffassung waren, sie hätten ein neues Zeitalter eingeläutet, das sich logischerweise die Neuzeit nannte. Die Humanisten hielten große Stücke auf die philosophischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der Antike, aber die rund tausend Jahre zwischen deren Ausklang und der soeben erfundenen Neuzeit betrachteten sie als eine dunkle Epoche, geprägt vom Verfall der griechischen und lateinischen Sprache und Bildung. Sie betitelten sie also als Mittelalter – eine Art intellektueller Sendepause –, die man getrost vernachlässigen könne. Die Aufklärung setzte ein paar Hundert Jahre später noch eins drauf und nannte das Mittelalter »finster«. Dieser Begriff hält sich hartnäckig, und wenn er in der Aufklärung lediglich die (angebliche) Finsternis der mittelalterlichen Unbildung beschrieb, bedient er heute unsere klischeehaften Vorstellungen von einem Zeitalter, das von Hungersnöten, Kriegen, Pest, Obrigkeitswillkür, Folter und Hexenverfolgung geprägt sei, was übrigens nicht stimmt.Also. Wir befassen uns hier mit der Zeit zwischen der hell strahlenden Antike und deren Wiederentdeckung durch die im wahrsten Sinne des Wortes epochemachenden Humanisten.
Und von wann bis wann genau soll dieses leidige Zwischenstadium gedauert haben?
Das ist nicht abschließend geklärt. Was die Dinge erschwert, ist die Tatsache, dass z. B. in Deutschland noch Mittelalter herrschte, als die Renaissance (ein weiterer Name für die Eröffnungsphase der Neuzeit) in Italien längst begonnen hatte.
Sagen wir also mit aller gebotenen Vorsicht: Das Mittelalter dauerte etwa von der Völkerwanderung, die Ende des 3. Jahrhunderts einsetzte, bis zur Verbreitung des Buchdrucks Ende des 15. Jahrhunderts. Diese Definition ist gerade deswegen brauchbar, weil sie Prozesse und nicht Zeitpunkte an den Anfang und das Ende der Epoche setzt.
In England ist bekanntlich alles ein wenig anders. Nicht nur fährt man dort auf der falschen Straßenseite, mäht den Rasen am Sonntag, betrachtet Mischbatterien als überflüssigen Schnickschnack und setzt ehrwürdigen Juristen drollige Perücken auf; auch in der Einteilung geschichtlicher Epochen gehen unsere Nachbarn auf der Insel eigene Wege und sagen: Bei uns dauerte das Mittelalter von ziemlich genau 450 bis ziemlich genau 1485. Das ist keine unbestrittene, aber eine weit verbreitete Meinung, und ich finde sie zumindest tauglich.
Warum, werden Sie verstehen, wenn Sie dieses Bändchen lesen.
Also, woll’n wir?
Kapitel 2
450 – 1066: Die Angelsachsen
Das englische Mittelalter begann mit einer Standortaufgabe: Um die Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert war das römische Imperium von so vielen Feinden bedroht, dass es sich gezwungen sah, seine schöne, nebelverhangene Inselprovinz Britannia aufzugeben.
Vielleicht war der damalige Kaiser Honorius insgeheim ganz froh, dieses entlegene Abschreibungsobjekt loszuwerden, denn Britannia hatte den Römern viel Ärger beschert: Die ersten beiden Versuche unter Julius Caesar, Britannien zu erobern, waren 55 und 54 vor Christus ziemlich kläglich gescheitert, weil bei der Überfahrt zu viele Schiffe – mitsamt lebender Fracht – verloren gingen und die Insulaner unerwartet heftigen Widerstand leisteten.
Erst rund hundert Jahre später wagten die Römer im Jahr 43 n. Chr. in der Zeit des Kaisers Claudius einen neuen Versuch, und dieses Mal gelang es, längerfristig in Britannien Fuß zu fassen. Etwa der Teil der Insel, der heute England heißt, wurde römische Provinz. Vor allem der Süden erlebte eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte, die nicht nur in den Ruinen von Bädern und Aquädukten bis heute ihre Spuren hinterlassen hat: Wenn man mit dem Auto von London nach Canterbury fährt, folgt man immer noch ziemlich genau der Straße, die die Römer angelegt haben. Apropos London: Es war die größte Handelsmetropole der Provinz Britannia und zählte rund 25 000
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