Wie Feuer im Regen
sie unter der heißen Dusche stand, der Ekel ließ sich nie ganz abwaschen. Dabei war sie sich nicht einmal sicher, ob sie der alte Mann mehr anwiderte, der sexuelle Gefälligkeiten im Gegenzug für die Finanzierung ihrer Schulausbildung forderte, oder sie sich selbst, weil sie sich für ihre Ausbildung prostituierte.
Wenn auch nur eine einzige ihrer hochwohlgeborenen Mitschülerinnen erfahren würde, dass sie ein Verhältnis mit dem Earl von Breckon hatte, dem Vorsitzenden der Stiftung zum Erhalt der St. Margaret Privatschule, würde sie sofort von ebendieser verwiesen werden und müsste zurückgehen nach Wien – das war keine Option, lieber würde sie sterben.
Umgekehrt hatte auch der Earl einiges zu verlieren, wenn seine Vorliebe für minderjährige Mädchen bekannt werden würde – angefangen von Ansehen und Ämtern bis hin zu seiner perfekten Vorzeigefamilie.
Neutral betrachtet war es ein gewinnbringendes Arrangement für beide Seiten.
Und Anne war nicht in der Position wählerisch sein zu können.
Sie musste nur noch ein halbes Jahr durchhalten, dann konnte sie ihren Abschluss machen und der Albtraum würde ein Ende haben.
Obwohl Poffy schon davon sprach, dass er in verschiedenen Gremien mehrerer renommierter Universitäten saß, würde sie seine Unterstützung nicht weiter in Anspruch nehmen.
Anne hasste sich selbst, ihren Körper, die ganze Welt und am meisten ihre Mutter - dafür, dass sie ihr außer Schönheit nichts mit ins Leben gegeben hatte.
Schließlich stellte sie das Wasser ab und griff nach einem Handtuch.
Ein bitteres Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, während sie an Mutter dachte. Eine Schlampe war sie, das war nicht einmal übertrieben, und eine Alkoholikerin dazu, die sich einen Dreck um ihr Kind scherte und den ganzen Tag an nichts anderes dachte, als an Schnaps und Zigaretten. Und Männer.
Sie wusste nicht einmal, welcher ihrer zahlreichen Liebhaber sie letztendlich geschwängert hatte.
Anne war aufgewachsen in einer winzigen Altbauwohnung in Wien, in der die Zimmer mehr hoch als breit waren, muffig und feucht, und in der sie meist alleine war, auch schon als kleines Kind.
Wenn nicht die alte Frau Sedlek im Hinterhaus gewesen wäre, Witwe und ebenso einsam wie sie, Anne wusste nicht, was dann aus ihr geworden wäre.
So war sie jeden Tag nach der Schule zu Frau Sedlek gegangen, Tante Martha, die ihr zu essen gab und darauf achtete, dass sie ihre Hausaufgaben machte und lernte. Wenn sie fertig mit den Aufgaben war, durfte sie sich an das alte Klavier in der Wohnküche setzen und Tante Martha brachte ihr bei, wie man wunderschöne Melodien spielte.
Zuhause dann hatte sie ein wohliges Gefühl im Bauch, das auch noch eine Weile anhielt, wenn Mutter sie anschrie, wie immer betrunken.
Anne dachte einfach an das letzte Klavierstück, das sie eben noch gespielt hatte, ging im Kopf die Tasten durch, über die ihre Finger geflogen waren – so hörte sie die heisere Stimme ihrer Mutter kaum, die sich in Schimpftiraden erging, einfach so, weil sie unzufrieden war.
Mit der Zeit lernte Anne auf diese Weise allen Widrigkeiten mit beherrschtem Gleichmut zu begegnen, wenigstens nach außen hin.
Ihre Gefühle hob sie sich für die Nachmittagsstunden am Klavier auf.
Sie war begabt, zweifellos, das Notenlesen fiel ihr leicht und sie brauchte nie lange, um ein neues Stück zu erlernen. Aber sie war kein Wunderkind. Was sie zu einer außergewöhnlichen Pianistin machte, war die Seele, die sie in die Musik legen konnte und die jeden Zuhörer verzauberte.
So war es auch beinahe selbstverständlich, dass sie den Musikwettbewerb ihrer Schule gewann. Als ersten von vielen.
Mutter erfuhr von alldem nichts.
Nicht einmal von dem hochdotierten Klaviercontest, bei dem der erste Preis ein Jahresstipendium an einer englischen Privatschule war.
„ Das ist deine Chance“, sagte Tante Martha. „Du bist jetzt fünfzehn Jahre alt. Wenn du gewinnst, kannst du weiter zur Schule gehen, noch dazu auf eine gute.“
Anne sah auf das Anmeldeformular in ihrer Hand. „Ich weiß nicht. Man braucht die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten für den Fall, dass man gewinnt. Mutter wird dagegen sein.“
„Das sollte dich nicht davon abhalten.“ Tante Martha bestrich eine Palatschinke mit Marillenmarmelade, rollte sie zusammen und schob den Teller über das gelbe Wachstischtuch auf Anne zu. „Wenn du darauf warten willst, dass deine Mutter etwas für dich tut, dann kannst du warten, bis du schwarz wirst,
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