Wie Feuer im Regen
Kind.“
„ Aber was soll ich denn tun? Ohne ihre Einwilligung kann ich nicht antreten.“
Tante Martha nahm ihr das Formular aus der Hand, zog einen Stift aus der Kitteltasche und unterschrieb unleserlich auf der gestrichelten Linie.
„Da hast du deine Unterschrift. Kann sowieso keiner entziffern. Jetzt fülle den Rest aus und überleg dir, was du spielen willst.“
Eine Weile sahen sich die alte Frau und das Mädchen schweigend in die Augen, dann nickte Anne.
„Ich werde den Wettbewerb gewinnen.“
„ Selbstverständlich. Und dann gehst du nach England und kommst nie wieder zurück. Versprich mir das! Du wirst es hier raus schaffen und zu etwas bringen!“
Wütend schleuderte Anne das Handtuch in die Ecke, nachdem sie sich abgetrocknet hatte.
Eineinhalb Jahre lag ihr Versprechen zurück. Eineinhalb Jahre, in denen sie Dinge getan hatte, die mehr als ekelerregend waren. Aber wie hätte sie sonst hier bleiben können? Ohne Geld? Ohne Unterstützung?
Tante Martha wäre entsetzt, wenn sie wüsste, was aus Anne geworden war.
Und das nach all dem Aufwand, den sie betrieben hatte! Dabei war der Wettbewerb nicht das Problem gewesen - viel komplizierter hatte sich der Abgang aus Österreich gestaltet.
Angefangen bei ihrem Namen.
Chantal Nowotny!
Ein Name wie ein Brandzeichen! Unterschicht! Sozial schwach, ungebildet, dumm! Sogar mit ihrem Namen hatte Mutter es geschafft, Anne Steine in den Weg zu legen. So würde sie es nie schaffen.
„ 528,20 Euro“, war Tante Marthas Lösung gewesen.
„ Was?“
„ So viel kostet es, seinen Namen zu ändern.“ Verschmitzt hielt sie im Staubwischen inne und zwinkerte Anne zu. „Ich habe einen alten Freund in der Magistratsabteilung, der ein Auge zudrücken und den Vorgang schnell durch winken würde.“
Sie legte den Staubwedel ab und nahm einen Umschlag aus der Tischschublade.
„Da drin sind tausend Euro. Mein Notgroschen. Das reicht für die Namensänderung, das Ticket nach England und für die erste Zeit dort. Mehr habe ich nicht. Danach bist du auf dich allein gestellt – aber du wirst es schaffen! Du bist ein schlaues Kind.“
„ Das kann ich nicht annehmen, Tante Martha. So viel Geld. Das brauchst du doch selber!“
„ Ich habe es für Notfälle gespart und dies ist ein Notfall. Ich will, dass du es nimmst.“
Anne schüttelte den Kopf. „Aber ich würde es nie zurück zahlen können.“
„Das musst du doch gar nicht! Dummchen! Du hast mir so viel Freude geschenkt, indem du deine Zeit mit einer einsamen alten Schachtel verbracht hast. Ich gebe es dir gerne!“
Unsicher sah Anne auf das Geld. Es wäre die Chance ihres Lebens. Wahrscheinlich die einzige, um dem Mief der Wiener Mietskaserne zu entkommen.
„Danke, Tante Martha!“, sie fiel der alten Frau um den Hals, „Ich verspreche dir, ich werde dich nicht enttäuschen!“
„ Das weiß ich. Und nun lass uns überlegen, wie du heißen willst. Ich finde, es muss ein Name sein, der klassisch klingt. Und englisch sollte er auch sein.“
Und so wurde aus Chantal Novotny auf dem Schreibtisch eines kulanten Wiener Beamten Anne Catherine Marsden.
Wie erwartet gewann sie das Stipendium und wie erwartet, fiel ihrer Mutter erst nach zwei Wochen auf, dass ihre Tochter nicht mehr da war.
Eine Zeit lang nahm sich Frau Novotny fest vor eine Vermisstenanzeige aufzugeben, aber schon bald löste sich diese gute Absicht im Rausch einer mehrtägigen Kneipentour auf, die im weiteren Verlauf zum Versagen der überstrapazierten Leber und somit zum Tod führte.
Dem Sozialarbeiter, der die Wohnung auflöste, wurde durch die Schule zwar mitgeteilt, dass es eine Tochter gab, die sich derzeit im Ausland befand, aber da der gestresste Mann beim besten Willen eine Chantal Novotny nicht auffinden konnte, verschwand die Akte schließlich unerledigt in irgendeinem Archiv.
Der einzige Mensch, der Anne vermisste, war Martha Sedlek.
Mit der flachen Hand wischte Anne über den beschlagenen Spiegel und blickte in ihr trauriges Gesicht.
Ihre Augen waren verquollen durch die Tränen, die sie unter der Dusche vergossen hatte.
„Tante Martha wird stolz auf mich sein“, sagte sie entschlossen zu ihrem Spiegelbild. „Ich werde Erfolg haben – und die Opfer, die ich dafür bringe, werden nicht umsonst sein!“
„Sprichst du schon wieder mit dir selber, Annie?“, die amüsierte Stimme gehörte Caroline, einer Mitschülerin, die gerade das Badezimmer betrat und ihren Kosmetikbeutel nachlässig auf das Waschbecken
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