Wie Feuer und Eis - On Thin Ice
der Anfang vom Ende gewesen. Es war ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, und sie hatte Sean als den Mann gesehen, der er wirklich war. Rückblickend war das allerdings nur die Spitze des Eisbergs gewesen. Sie hätte sofort wie von der Tarantel gestochen davonlaufen sollen, denn kurz darauf waren ihr die Hände gebunden gewesen.
Eine Woche nach den Flitterwochen war Sean vom Arzt zurückgekommen. Am selben Tag, an dem Lily in der Stadt bei ihrem Anwalt Barry Campbell gewesen war. Sie hatten in diesem unpersönlichen, überdekorierten Speisezimmer gesessen,
vor einem Dinner, das keiner von ihnen beiden hatte essen wollen.
Lily war von gerechtem Zorn und tödlicher Ruhe erfüllt gewesen und hatte ihm mitgeteilt, dass ihre Ehe vorüber sei. Sean hatte niedergeschlagen und nicht halb so selbstbewusst wie früher gewirkt und ihr erklärt, dass er unheilbar an Krebs erkrankt sei. Lily hatte später herausgefunden, dass er bereits monatelang in Behandlung gewesen war.
Der Arzt hatte Sean noch sechs Monate gegeben.
Sie hatte ihm natürlich nicht geglaubt. Keine Sekunde lang. Doch am folgenden Tag hatte ein Besuch bei seinem Arzt die düstere Prognose bestätigt.
Lily hatte ihn nicht verlassen können. Sean mochte ein Dreckstück sein, sie war keines. Was immer sich zwischen ihnen zugetragen hatte, sie konnte einen sterbenden Mann nicht sitzen lassen, auch wenn sie ihn nicht mehr liebte. O Gott, sie hätte es gern getan, träumte sogar davon. Aber sie hatte nichts mehr von Sean gewollt, vor allem nicht das Schuldgefühl, ihn alleine sterben haben zu lassen.
Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Vielleicht hätte sie ihn trotz seiner Erkrankung verlassen sollen. Hätte sie gewusst, dass aus den sechs Monaten drei lange, entsetzliche Jahre werden würden.
»Lily?«
»Was? Oh, hm - das Reisen. Als ich mit dem College fertig war, bin ich nach Mexiko gefahren.«
»Ich nehme dich nach Bora-Bora mit. Das Wasser ist von einem unglaublichen transparenten Türkis, und der Sand ist so fein, dass er unter den Füßen quietscht. Es wird dir gefallen. Hast du schon mal geschnorchelt?«
Trotz der klirrenden Kälte und ihres sichtbar in der Luft hängenden Atems überrollte Lily bei der Vorstellung, sich
knapp bekleidet auch nur irgendwo in Dereks Nähe aufzuhalten, eine Hitzewelle. Ein Vision legte sich über die weiße Winterlandschaft. Ein Strand mit weißem heißem Sand, kristallklar türkises Wasser, die Schreie der Möwen. Und Derek, der nichts trug außer einem Lächeln und goldener Bräune.
»Hast du Probleme beim Atmen«, fragte er besorgt. »Die Höhe …«
»So hoch sind wir nicht. Ich habe die Hunde ein bisschen zu sehr angetrieben und war abgelenkt«, log Lily gepresst. An Derek zu denken, wirkte besser als eine Thermodecke. »Wo waren wir? Ach, ja. Das Schnorcheln. Letztes Jahr hat mich Zephyr in den Wassertrog geschubst, wenn das gilt. Doch glaub mir, was da im Wasser getrieben ist, hatte nichts mit tropischen Fischen zu tun.«
Derek lachte ihr ins Ohr, und sie lächelte über den tiefen vollen Klang. »Du fährst oft auf die Fidschi-Inseln, oder?«, fragte sie neugierig.
»Nicht so oft, wie ich gerne möchte«, sagte er abwesend. Was für ein Trottel war er eigentlich, fragte er sich wütend. Warum hatte er diese Flitterwochen ansprechen müssen? Dummer Vollidiot. Natürlich waren sie kaum aus dem Zimmer gekommen, Jesus. Sean hatte ihm nach seiner Rückkehr postwendend alle erotischen Details seiner kanadischen Flitterwochen erzählt. Die beiden hatten jede Sekunde im Bett verbracht. Und kaum eine davon schlafend. Verdammt und zur Hölle. Sogar jetzt, nach all diesen Jahren, hatte er noch die Bilder von Lily im Kopf und was sie auf ihren Flitterwochen angestellt hatte. Nur dass dabei er Seans Platz einnahm.
Er entdeckte eines der berühmten gelb reflektierenden Iditarod-Highwayschilder mit der WATCH YOUR ASS -Aufschrift. Er trat auf die Bremse, um das Gespann zu verlangsamen,
fuhr vorsichtig weiter und versuchte, sich auf die vor ihm liegende Aufgabe zu konzentrieren.
»Ich weiß es zu schätzen, dass du nach Seans Erkrankung nicht mehr so häufig verreist bist«, sagte Lily in sein Ohr.
Sie waren bei T-FLAC nicht unbedingt in Freudentänze ausgebrochen, aber er hatte Lily mit der Sorge um Sean und all der Arbeit auf der Ranch nicht allein lassen können. Er hatte verdammt gute Leute auf der Ranch, darunter einen Vormann, dem er ein obszönes Gehalt bezahlte und zwar aus zweierlei Gründen: zum einen,
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