Wie Feuer und Eis - On Thin Ice
früh genug verlassen, um die schwierigsten Streckenabschnitte bei Tageslicht fahren zu können. Die Passage über den Gebirgskamm zum Red Lake und weiter zum Rainy Pass war außerordentlich zeitaufwändig zu fahren. Es war schon schwer genug, sie bei Tageslicht zu durchqueren. Bei Nacht wollte sie sich das nicht antun. Nicht bei einem Pfad, der über bewaldete Felsplatten nach oben kletterte, auf dem es Flecken voller Schlamm und vermodertem Laub gab.
Danach folgte die steile Abfahrt durch die bewaldeten Uferzonen des Happy River, dann ging es auf dem zugefrorenen Fluss selbst über die gefürchteten Terrassenstufen des Happy River. Es würde wieder ein langer Tag werden.
Im Moment sah es eher wie kurz vor Einbruch der Nacht aus, nicht wie Mittag. Doch den Hunden gefiel das Wetter. Minus dreißig Grad waren ihnen gerade recht.
»Wie läuft’s, Doc?«, fragte Derek in ihrem Ohr. Es war sonderbar intim, ihn zu hören und mit ihm zu sprechen, ohne ihn direkt vor sich haben. Ehrlich gesagt, war es ziemlich angenehm, Gesellschaft zu haben. Normalerweise hörte sie Musik
oder genoss einfach nur die Stille. Jemanden erzählen zu können, was es auf der Strecke zu sehen gab, war … nett.
Auch wenn sie manchmal eine Stunde oder länger nicht miteinander sprachen, hatte es etwas ungemein Tröstliches, dass Derek, der sie mittlerweile überholt hatte, nur ein Flüstern entfernt war. Er machte sie auf Hindernisse aufmerksam oder sagte ihr, sie solle an der nächsten Biegung nach rechts sehen, wo sich ein Vogelnest auf Augenhöhe befand.
Es freute sie, dass er sich nicht scheute, sie um Rat zu fragen. Er hatte nur zweimal am Iditarod teilgenommen, und Lily war erfahrener. Zumindest in dieser Hinsicht. Er hatte nach dem letzten Stopp ordentlich Tempo gemacht und war ungefähr fünfzehn Minuten voraus. Nicht viel. Sie würde ihn einholen und ihm über die Schulter zuwinken, wenn sie ihn passierte.
Lily hatte sich beim letzten Stopp zwanzig kostbare Minuten Zeit genommen, um zu duschen und frische Sachen anzuziehen. Manche Musher duschten das ganze Rennen über nicht. Zu denen gehörte sie nicht. Es machte ihr nichts aus, schmutzig zu werden , sie hatte ein Problem damit, schmutzig zu sein . Derek offenbar auch. Er hatte unmittelbar vor ihr unter der Dusche gestanden. Als hätte er das noch erzählen müssen. Als sie die provisorische Duschkabine betreten hatte, hatte sie auf der Stelle den markanten Duft seiner Seife und seines Rasierschaums erkannt.
Es war erstaunlich und mehr als ein bisschen beunruhigend, wie vertraut er ihr war und wie viele intime Details sich ohne Genehmigung in ihr Langzeitgedächtnis geschlichen hatten.
Sonderbar, sie schaffte es nicht, sich nur einen einzigen intimen Moment mit ihrem verstorbenen Mann ins Gedächtnis zu rufen, doch in Sachen Derek verfügte sie über einen ganzen
Katalog lebendiger Bilder. Sie brauchte nicht einmal die Augen zu schließen, um sich daran zu erinnern, wie Dereks Hände sich anfühlten.
Sie gab sich im Geiste einen Klaps und kehrte in die Realität zurück. Er fuhr schon die ganze Zeit vor ihr her. Nervtötender Kerl. Sie musste zu ihm aufschließen und in überholen.
»Ich musste Ajax am Futterdepot zurücklassen«, sagte sie abwesend und hielt die Augen offen … nach was auch immer. Die Schüsse von heute Morgen setzten ihr noch zu, und sie hatte permanent das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie hatte sich zwar eingeredet, dass der Schütze nicht dem Iditarod-Trail folgte, doch eine kleine Ecke in ihrem Hinterkopf machte sich Sorgen. Vorhin, als sie angehalten und die Hunde begutachtet hatte, war sie die ganze Zeit über angespannt gewesen, hatte nur darauf gewartet, dass jemand auf sie feuerte.
Nichts war passiert. Natürlich nicht. Sie kam sich ihrer Paranoia wegen blöd vor. Aber die Stelle zwischen ihren Schulterblättern juckte nach wie vor, und paranoid oder nicht, sie hatte die Neunmillimeter griffbereit und das Gewehr, das sie aus dem Seitenfach des Schlittens geholt hatte, ebenfalls. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste.
»Wie geht es dem Hund?«, drang Dereks tiefe Stimme in ihr Ohr.
»Bald wieder gut.«
Ajax hatte es irgendwie geschafft, sich eine Klaue abzurei-ßen, und hatte furchtbar gehumpelt. Lily hatte angehalten, ihn in den Tragesack geladen und ihn am nächsten Checkpoint abgegeben, von wo aus man ihn nach Anchorage zurückfliegen würde. Es gab Musher, die das Rennen mit sehr viel weniger Hunden gewonnen hatten, aber Ajax war so
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