Wie funktioniert die Welt?
Staub finden sich rein zufällig zusammen und bilden eine vollständig zusammengebaute Bombe. Und wie lange muss man warten? Nach Boltzmanns Prinzipien ist die Antwort die Exponentialgröße der Entropie, die mit der Explosion der Bombe erschaffen wird. Das ist ein sehr langer Zeitraum, viel länger als die Zeit, bis eine Million Mal hintereinander die Zahl oben liegt.
Damit wir besser erkennen, wie eine Richtung eines Ablaufs wahrscheinlicher sein kann als die andere, obwohl beide möglich sind, möchte ich ein einfaches Beispiel nennen. Stellen wir uns einmal einen Berg vor, der oben in einer schmalen Spitze – einer Felsnadel – ausläuft. Nun stellen wir uns vor, dass auf dem Gipfel des Berges eine Bowlingkugel balanciert. Ein winziger Windstoß lässt die Kugel vom Berg rollen, und wir fangen sie am unteren Ende auf. Als Nächstes lassen wir das Ganze andersherum ablaufen: Die Kugel verlässt unsere Hand, rollt den Berg hinauf, gelangt mit ungeheurer Raffinesse auf den Gipfel – und bleibt dort liegen! Ist das möglich? Ja. Ist es wahrscheinlich? Nein. Man müsste eine nahezu vollkommene Präzision walten lassen, um den Ball auf den Gipfel zu befördern, ganz zu schweigen davon, dass er dort im Gleichgewicht liegen bleibt. Das Gleiche gilt für die Bombe. Könnte man jedes Atom und jedes Teilchen ausreichend genau in die umgekehrte Richtung bewegen, würden die Produkte der Explosion sich wieder zusammenfinden. Aber eine winzige Ungenauigkeit in der Bewegung eines einzigen Teilchens reicht aus, damit alles nur noch Schrott ist.
Ein anderes Beispiel: Wir lassen einen Tropfen schwarze Tinte in eine Schüssel mit Wasser fallen. Die Tinte verteilt sich und färbt das Wasser am Ende grau. Wird eine Schüssel mit grauem Wasser jemals wieder klar werden und einen kleinen Tropfen Tinte ausspucken? Nicht unmöglich, aber sehr unwahrscheinlich.
Boltzmann verstand als Erster die statistische Grundlage des Zweiten Hauptsatzes, er begriff aber auch als Erster, wie unzureichend seine eigene Formulierung war. Angenommen, wir stoßen auf eine Schüssel, die vor unzähligen Jahrmillionen gefüllt und seitdem nicht gestört wurde. Uns fällt die seltsame Tatsache auf, dass sie eine geringfügig abgegrenzte Tintenwolke enthält. Als Erstes fragen wir: Was geschieht als Nächstes? Die Antwort: Mit ziemlicher Sicherheit wird die Tinte sich weiter ausbreiten. Nach dem gleichen Prinzip können wir aber auch fragen, was wahrscheinlich im Augenblick zuvor geschehen ist, und die Antwort wäre die gleiche: Wahrscheinlich war die Tinte einen Augenblick zuvor stärker ausgebreitet als jetzt. Die wahrscheinlichste Erklärung lautet also: Die Tintenwolke ist eine vorübergehende Schwankung.
In Wirklichkeit glaube ich nicht, dass jemand zu einer solchen Schlussfolgerung gelangen würde. Vernünftiger wäre die Erklärung, dass sich in der Schüssel aus unbekannten Gründen vor nicht allzu langer Zeit ein Tropfen konzentrierter Tinte befand, der sich dann ausgebreitet hat. Zu verstehen, warum Tinte und Wasser sich nur in eine Richtung bewegen, wird dann zu einer Frage der »Anfangsbedingungen«. Was hat die Tintenkonzentration ursprünglich so eingerichtet?
Wasser und Tinte sind eine Analogie für die Frage, warum die Entropie zunimmt. Sie nimmt zu, weil es am wahrscheinlichsten ist, dass sie zunehmen wird. Die Gleichungen besagen aber auch, dass sie in Richtung der Vergangenheit mit der größten Wahrscheinlichkeit zunehmen wird. Um zu verstehen, warum wir einen solchen Eindruck von einer Richtung haben, muss man die gleiche Frage stellen wie Boltzmann: Warum war die Entropie zu Anfang sehr klein? Was hat das Universum auf diese besondere Weise mit niedriger Entropie erschaffen? In dieser kosmologischen Frage herrscht immer noch große Unsicherheit.
Zu Anfang habe ich erzählt, was meine Lieblingserklärung ist, und am Ende habe ich erzählt, wie mein ungelöstes Lieblingsproblem aussieht. Ich entschuldige mich dafür, dass ich nicht die Anweisungen befolgt habe. Aber so geht es mit allen guten Erklärungen. Je besser sie sind, desto mehr Fragen werfen sie auf.
Joel Gold
Die dunkle Materie des Geistes
Psychiater; außerordentlicher Professor für Psychiatrie, New York University School of Medicine
Es gibt Menschen, die wünschen sich eine stabile Ehe und betrügen dennoch fortgesetzt ihre Ehefrauen.
Es gibt Menschen, die wünschen sich eine erfolgreiche Karriere und untergraben dennoch ständig ihre eigene Arbeit.
Aristoteles
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