Wie funktioniert die Welt?
Kognitivisten behaupten, bestimmte Handlungen seien unabhängig von der Gesellschaft, in der sie stattfinden oder nicht, von ihrem Wesen her gut oder schlecht – ganz ähnlich wie die Gesetze der Physik, von denen man allgemein glaubt, sie seien unabhängig von jenen, die ihre Auswirkungen beobachten. Nichtkognitivisten dagegen erklären, keine moralische Haltung sei universell gültig, und jede (hypothetische) Gesellschaft mache ungehindert ihre eigenen moralischen Regeln, so dass selbst Handlungen, die wir als eindeutig unmoralisch bezeichnen würden, in irgendeiner anderen Kultur vielleicht moralisch nicht zu beanstanden sind. Wenn wir aber tatsächlich entscheiden, ob diese oder jene Ansicht moralisch hinnehmbar ist oder nicht, befreit uns das Überlegungsgleichgewicht von der Notwendigkeit, in der Frage des Kognitivismus einen Standpunkt zu beziehen. Kurz gesagt, es erklärt, warum wir nicht wissen müssen, ob Moral objektiv ist.
Dass ich hier die Monogamie in den Mittelpunkt stelle, hat einen ganz bestimmten Grund: Unter den vielen Themen, auf die man das Überlegungsgleichgewicht sinnvollerweise anwenden kann, steht die Haltung der westlichen Gesellschaft zur Monogamie an einem besonders kritischen Wendepunkt. Die Monogamie lässt sich heute mit der Heterosexualität vor noch nicht allzu vielen Jahrzehnten oder mit der Tolerierung der Sklaverei vor 150 Jahren vergleichen. Relativ viele Menschen weichen davon ab, eine viel kleinere Minderheit setzt sich aktiv dafür ein, solche Abweichungen zu tolerieren, aber die meisten Menschen verteidigen sie und verunglimpfen die Minderheitsmeinung. Warum stehen wir jetzt am »kritischen Wendepunkt«? Weil jetzt der Punkt erreicht ist, an dem aufgeklärte Vordenker die Geschwindigkeit des Übergangs zur moralisch unausweichlichen Haltung am stärksten beeinflussen können.
Zunächst möchte ich klären, dass ich hier die Sexualität meine und nicht (jedenfalls nicht zwangsläufig) tiefere emotionale Bindungen. Ganz gleich, welche Ansichten oder Vorlieben man im Hinblick auf die Annehmbarkeit oder Wünschbarkeit tiefer emotionaler Bindungen zu mehreren Partnern haben mag, die Wahrnehmung der damit verbundenen Verantwortung nimmt in der Regel einen beträchtlichen Anteil der 24 Stunden, die ein Tag für jeden hat, in Anspruch. Die Komplikationen, die sich aus dieser unbequemen Wahrheit ergeben, sind das Thema für eine andere Gelegenheit. In dem vorliegenden Aufsatz konzentriere ich mich auf Affären, die so locker sind (ganz gleich, ob sie sich wiederholen), dass die verfügbare Zeit kein großes Thema ist.
Eine Argumentation, die auf dem Überlegungsgleichgewicht aufbaut, beginnt immer mit der Benennung der konventionellen Ansichten, zu denen man dann eine Parallele zieht. In diesem Fall geht es dabei um Eifersucht und Besitzdenken. Nehmen wir beispielsweise das Schachspiel oder das Trinken. Beide sind nur selten einsame Beschäftigungen. Gilt es nun im Allgemeinen als vernünftig, wenn ein Freund, mit dem ich mich manchmal zum Schach treffe, bedrückt oder bekümmert ist, wenn ich einmal eine Partie mit jemand anderem spiele? Würden wir jemanden, der in einer solchen Frage Besitzdenken an den Tag legt, nicht sogar als erdrückend und egoistisch bezeichnen?
Jetzt liegt wahrscheinlich auf der Hand, worauf ich hinauswill. Sexualität hat schlicht und einfach nichts, was sie moralisch von anderen Tätigkeiten, denen zwei (oder mehr) Personen gemeinsam nachgehen, unterscheiden würde. In einer Welt, in der die Fortpflanzungsleistung keine Triebkraft mehr darstellt, und unter der Annahme, dass alle Beteiligten im Hinblick auf Schwangerschaft und Krankheiten geeignete Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, ist Sex ganz überwiegend eine Freizeitbeschäftigung. Was unterscheidet ihn dann moralisch von anderen Freizeitbeschäftigungen? Wenn wir erkennen, dass es da nichts gibt, zwingt uns das Überlegungsgleichgewicht zu einer von zwei Positionen: Entweder haben wir jetzt etwas gegen die Frechheit unseres regelmäßigen Schachpartners, der auch mit anderen spielt, oder wir haben auch beim Sex keinen entsprechenden Widerwillen mehr.
Meine Prophezeiung, dass das Ende der Monogamie unmittelbar bevorsteht, ergibt sich aus dem, was ich oben über die Fortpflanzungsleistung gesagt habe. In der Geschichte kam es in jeder Gesellschaft zu einem steilen Abfall der Fruchtbarkeit, wenn ein Wohlstandsniveau erreicht war, das den Frauen ein vernünftiges Maß an Bildung und Emanzipation
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