Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie Inseln im Strom

Wie Inseln im Strom

Titel: Wie Inseln im Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen O`Brien
Vom Netzwerk:
1. KAPITEL
    “O h, mein Gott, was ist denn mit dem Baby?” Der entsetzte Aufschrei war in der ganzen Halle zu hören. “Lacy! Wo steckst du? Das Baby ist verkehrt herum!”
    Das angeregte Geplauder in der überfüllten Reithalle verstummte für einen Moment. Über hundert Gäste hatten sich in den umgebauten Stallungen des Barnhardt-Anwesens versammelt, um sich festlich bewirten zu lassen. Es war eine Spendenveranstaltung zugunsten der geplanten Neugeborenenstation im Krankenhaus von Pringle Island.
    “Lacy! Komm her!”
    Zwei Dutzend Gesichter wandten sich mit diskreter Neugier Lacy Morgan zu. Andere Gäste streckten die Köpfe aus den Boxen, die einst die acht Pferde der Barnhardts beherbergt hatten. Heute Abend waren dort die Gegenstände ausgestellt, die später versteigert werden sollten.
    “Lacy, komm schnell!” Die aufgeregte Stimme klang immer schriller. “Um Himmels willen, sieh dir dieses Baby an!”
    Lacy seufzte stumm. Niemand außer Tilly Barnhardt konnte diese Tonlage treffen – und so lange halten! Und außer der exzentrischen alten Lady hätte niemand hier gewagt, in so einer hochkarätigen Gesellschaft zu kreischen.
    “Entschuldigen Sie mich. Ich glaube, man ruft nach mir.” Lacy lächelte dem Gentleman zu, der sie seit einer halben Stunde mit allem langweilte, was es über Warentermingeschäfte zu wissen gab. Sie nahm sich ein Glas Champagner vom Tablett eines Kellners, hob ihren langen blauen Seidenrock leicht an und glitt über das polierte Parkett.
    Tilly Barnhardt, ihre mütterliche Freundin, stand in der ehemaligen Sattelkammer vor einem riesigen Ölgemälde und starrte es mit gerunzelter Stirn an.
    “Tilly, meine Liebe, bitte nicht so laut.” Lacy reichte ihr das Glas. “Die Hälfte deiner Gäste denkt bereits, dass hier jemand umgebracht wird.”
    “Aber sieh doch! Sieh dir an, was diese Trottel gemacht haben!” Mit dramatischer Geste zeigte Tilly auf das Gemälde. “Das ist der Verengeti! Unser Knüller! Das Highlight der gesamten Versteigerung – und irgend so ein Idiot hat ihn verkehrt herum aufgehängt! Ist das zu fassen?”
    Lacy strich ihr liebevoll über die Schulter und fühlte dabei den abgewetzten Samt. In diesem alten Kleid hatte Tilly zwei US-Präsidenten getroffen, drei Ehemänner geheiratet und Spenden in Höhe von rund fünf Millionen Dollar für das Krankenhaus eingetrieben. Als reiche Witwe des beliebtesten Frauenarztes von Pringle Island könnte sie es sich eigentlich leisten, für jeden Tag der Woche ein neues Kleid zu kaufen. Aber wie Tilly immer zu sagen pflegte, sie konnte sich auch leisten, es eben nicht zu tun. Ihr fehlender Snobismus war das, was Lacy am meisten an ihr gefiel.
    “Er ist nicht verkehrt herum”, erklärte Lacy und betrachtete das wilde Durcheinander aus blauen und pinkfarbenen Flecken, das Verengetis Markenzeichen war. In der Mitte bildeten sie ein Baby in den Armen einer Frau, die unverkennbar auf dem Kopf stand. Vermutlich wollte der Künstler damit etwas über die kosmische Bedeutung der Mutterschaft aussagen, aber Lacy ahnte, dass Tilly dafür wenig Verständnis aufbringen würde. “Das soll so sein, Tilly.”
    Tilly schnaubte. “Blödsinn.” Sie studierte das Gemälde und legte dabei den Kopf so schräg, dass Lacy schon um den Sitz ihrer steifen weißen Perücke fürchtete. “Wirklich?” Sie sah Lacy an. “So?”
    Lacy nickte. “Ich fürchte, ja.” Sie hob das Champagnerglas, und dieses Mal nahm Tilly es ihr ab.
    “Nun ja.” Mit einem einzigen Schluck leerte die alte Lady das Glas. “Nun ja.” Sie warf Lacy einen belustigten Blick zu. “Du hast ja Kunst studiert, da kennst du dich wohl aus.”
    Lacy lächelte versöhnlich. “Stimmt.”
    Es war ein alter Scherz zwischen ihnen. Tilly war die einzige Frau in der Stadt, die sich von Lacys akademischen Lorbeeren nicht beeindrucken ließ. Und Lacys verstorbener Ehemann hatte sich darüber immer geärgert. Malcolm Morgan war es ungemein wichtig gewesen, dass jeder ihn dafür bewunderte, was für eine kultivierte und gebildete Frau er aus der armen kleinen Lacy gemacht hatte.
    Lacy selbst war es vollkommen gleichgültig, wie die Leute über ihre Verwandlung dachten. Was hatte akademisches Wissen damit zu tun, ob man Kunst und Schönheit zu schätzen wusste? Noch heute erinnerte sie sich daran, wie sie vor zehn Jahren auf einem Schulausflug zum ersten Mal ein richtiges Gemälde gesehen hatte. Keine Universität konnte einem das ehrfürchtige andächtige Gefühl vermitteln,

Weitere Kostenlose Bücher