Wie Jakob die Zeit verlor
Seine Eltern wussten nichts über sein und Marius‘ Leben, kannten nur die Grundrisse, die Fassade. Aber seine Mutter hatte die Lüge durchs Telefon gehört, hatte die Pausen zwischen seinen Sätzen mit Worten gefüllt, und jetzt saßen seine Eltern ihm gegenüber auf dem Sofa, beunruhigte Blicke in den Gesichtern, eine weitere Last auf seinen Schultern. Jakob fühlte sich mürbe und ausgelaugt. Was konnte er ihnen sagen, außer der Wahrheit?
Jahrelang hatte er seine Eltern auf Abstand gehalten. Die Welt, in der sie lebten, eine kleinbürgerliche Existenz in einer Kleinstadt nahe Bonn, eine Welt, in der sich alles um die Eisenwarenhandlung drehte, die sie gemeinsam aufgebaut hatten und in der mittlerweile Jakobs Bruder die Geschäfte führte, war nicht seine. Mit dem Studium war er der Enge entflohen, den unausgesprochenen Fragen, der heimlichen Kontrolle, der allumfassenden Religiosität, die seine Neigungen als Sünde betrachtete: Pornozeitschriften, die er als Teenager unter dem Bett hortete, hatte er eines Tages geschreddert im Hausmüll wiedergefunden. Seine Mutter hatte den Vorfall mit einer stickigen Decke des Schweigens verhüllt, hatte sich vielleicht an die Hoffnung geklammert, dass nackte Männer nur eine vorübergehende Phase in der Entwicklung ihres Sohnes darstellten. Und Jakob war zu feige gewesen, diese Decke zu zerreißen, auch wenn er insgeheim über einen solchen Akt der Verleugnung fassungslos war. Seine Homosexualität hatte er später aus sicherer Entfernung am Telefon eingestanden, hatte die missbilligende Sprachlosigkeit über sich ergehen lassen und war monatelange nur zu Geburts- und Feiertagen zurückgekehrt.
Erst, nachdem er sich in Marius verliebt hatte, war eine vorsichtige Entspannung im Verhältnis zu seinen Eltern eingetreten.
An einem Sonntagnachmittag, vier Wochen, nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte er Marius mitgebracht, hatte ihn nervös als Schwiegersohn vorgestellt.
„Aber wer ist der … der Mann bei euch?“, hatte seine Mutter mit rotem Kopf in der Küche gefragt, während sich Marius mit seinem Vater im Wohnzimmer über den Niedergang kleiner Einzelhandelsgeschäfte unterhielt.
„Keiner“, hatte Jakob geantwortet. „Beide.“
Alles in allem war es besser gelaufen, als er befürchtet hatte, und Marius hatte auf der Rückfahrt davon geschwärmt, wie aufgeschlossen Jakobs Eltern im Gegensatz zu seinen doch waren. Jakob hatte ihm zögernd recht geben müssen, hatte seine Eltern plötzlich aus einem anderen Blickwinkel gesehen.
Natürlich hatte er gewusst, dass sein Vater und seine Mutter auch deshalb von Marius angetan waren, weil sie Jakob nun in einer monogamen und eheähnlichen Beziehung vermuteten.
„Ich bin erleichtert“, hatte ihm seine Mutter gestanden, bevor sie die Kaffeekanne ins Wohnzimmer trug.
„Erleichtert? Wieso?“
„Du weißt schon … jetzt müssen wir uns keine Sorgen mehr machen. Wegen dieser Krankheit.“
Und Jakob hatte sie in dem Glauben gelassen. Bis jetzt.
„Marius hat Aids“, sagte er und starrte auf die Handtasche seiner Mutter, die neben dem Sofa lag. „Wir sind beide positiv. Schon seit fast drei Jahren.“ Es gab keine Möglichkeit, die Wahrheit schonend zu verpacken. Er war nicht mehr in der Lage, etwas zu beschönigen.
„Aids?“, brachte seine Mutter stockend heraus. „Aber … wir dachten …“ Unwillkürlich flog ihre Hand vor den Mund. „Er wird sterben!“
Ihre Worte trafen Jakob wie ein Schwall eiskalten Wassers, ohne Vorwarnung, ohne Erbarmen. Sie klangen wie ein Richterspruch.
„Das wird er nicht!“, fuhr er sie an. Unmöglich, etwas gegen die Tränen zu tun, die plötzlich über seine Wangen rannen, Tränen der Wut und Enttäuschung. Wie hatte er auf Verständnis hoffen können, auf Unterstützung? Er konnte seinen Eltern nicht noch einmal Zeit gewähren, Zeit zu verstehen. „Marius wird nicht sterben! Er kann nicht … sterben!“ Seine Mutter streckte die Hand nach ihm aus, eine hilflose, um Verzeihung bittende Geste, aber Jakob sprang auf und rannte zur Tür. „Wenn das alles ist, was ihr sagen könnt, dann ist es besser, wenn ihr geht.“
Am Abend, als er wieder im Krankenhaus war, legte er sich auf die Pritsche, die ihm jemand bereitgestellt hatte, und starrte in den Nachthimmel, der sich dunkel und sternenklar im Fenster breitmachte. Marius hatte gedöst, als er eintraf, jetzt nestelte er unruhig an der Bettdecke. Seine Hand suchte Jakobs Schulter.
„Wie war’s?“, fragte er
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