Wie Jakob die Zeit verlor
steht.
„Hier wohnst du also?“, fragt Arne.
„Ich? Nein. Aber Lars lässt mich hin und wieder auf seinem Sofa pennen.“
„Lars?“
Philip zuckt mit den Schultern und geht voran, ohne sich umzudrehen. „Ein Kumpel.“
November 1989
Das Ende des sozialistischen Regimes in der DDR kündigt sich an: Schon im Oktober ist Erich Honecker gestürzt und durch Egon Krenz ersetzt worden. Doch die SED ist längst nicht mehr Herr der Lage. Nach monatelangen Demonstrationen, bei denen zuletzt fast täglich Hunderttausende unter dem Motto „Wir sind das Volk!“ auf die Straße gegangen sind, fällt am 9. November die Mauer. Tausende DDR-Bürger stürmen in den Westen und tanzen und feiern auf den Sperranlagen vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten folgt nur ein knappes Jahr später.
Auch in den übrigen Staaten des Ostblocks geht der Umbruch weiter. In der Tschechoslowakei wird die alte kommunistische Führung gestürzt. Damit kann sich in den Ländern des Warschauer Pakts einzig in Rumänien noch ein paar Wochen eine diktatorische Regierung halten. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 ist der Kalte Krieg vorbei.
Mit „Sure of You“ (dt. „Schluss mit lustig“) ist einige Wochen zuvor der letzte Teil von Armistead Maupins „Stadtgeschichten“ in den USA erschienen. Die Buchserie über Michael Tolliver und seine Freunde gehört zu den erfolgreichsten schwulen Romanen weltweit. Erst Jahrzehnte später schreibt Maupin zwei weitere Bücher der Reihe.
In Rom findet die erste vom Vatikan organisierte Konferenz zum Thema Aids statt. Doch anstatt Kondome zur Prävention zu propagieren, setzt die Kirche weiter auf Gebete, Gottvertrauen und Enthaltsamkeit. Papst Johannes Paul II. bezeichnet den Gebrauch von Kondomen als moralisch verwerflich.
Noch immer gibt es in der Wissenschaft vereinzelte Meinungen, die Aids als Krankheit leugnen. Der umstrittene Biologe Ryke Geerd Hamer hält Aids für eine „Smegma“-Allergie nach einem „Smegma“-Trauma und kann solche Ansichten in wissenschaftlichen Zeitschriften äußern. In den USA bezeichnet der bekannte Mikrobiologe Peter Duesberg Aids als Unsinn. Er behauptet, alle Aids-Erkrankungen und -sterbefälle ließen sich auf normale Infektionen zurückführen, auf Drogenüberdosierungen und die damit einhergehenden erhöhten Ansteckungsgefahren. Eine weitere Theorie lautet, dass die Regierung der USA Aids erfunden habe, um die eigene schwarze Bevölkerung zu dezimieren. Der Tod homosexueller Männer sei nur ein Ablenkungsmanöver.
Kurz zuvor ist in den USA der Film „Longtime Companion“ in den Kinos gestartet. Es ist der erste Hollywood-Film, der sich mit Aids beschäftigt. Thematisiert werden der Beginn der achtziger Jahre und die Auswirkungen, die Aids auf einen Freundeskreis hat. „Longtime Companion“ wird für einen Oscar nominiert und kann einen Golden Globe gewinnen.
In Deutschland stehen Kaoma mit „Lambada“ wochenlang an der Spitze der Charts; in Großbritannien ist es Lisa Stansfield mit „All around the World“.
„Komm“, sagte Jakob. „Eigentlich sind wir schon zu spät.“
Er hielt eine Tasche in den Händen, die er am Abend gepackt hatte, weil es für Marius zu anstrengend war: Schlafanzug, Bademantel, Pantoffeln, Kulturbeutel – Dinge eben, die man im Krankenhaus brauchte. Einen Apfel, obwohl Marius nichts mehr bei sich behalten konnte, jedwede feste Nahrung in hohem Bogen wieder ausspuckte und sich würgend über den Eimer beugte, den Jakob in den Nächten bereitstellte. Ein Buch, obwohl Marius nur noch selten las. Die Fluchtburgen, die ein Roman bot, zerfielen vor seinen Augen zu Ruinen, wurden zu nutzlosen Trümmern angesichts der Wucht, mit der die Realität in den letzten Wochen auf Jakob und ihn eingeschlagen hatte.
„Ich will nicht gehen“, sagte Marius traurig. Er sah entkräftet aus, dünn, hatte in kurzer Zeit fünf Kilo Gewicht verloren. Am meisten konnte man es an den Wangen sehen, die sich gespenstisch nach innen wölbten, als wäre er das Opfer einer Hungerkatastrophe. Die Jeans, deren Enge er früher verflucht hatte, schlotterten um seine Beine und um seinen Hintern wie ein leerer Sack. Am Tag zuvor hatte Jakob mit der Lederzange ein weiteres Loch in den Gürtel gebohrt, weil die vorhandenen Löcher zu weit waren, um ihn auf der Taille zu halten.
„Ich weiß.“ Jakob nahm seine Hand. „Wenn ich einen Weg wüsste, wenn ich zaubern könnte …“
Marius verzog
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