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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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die Mundwinkel zu einem wässrigen Lächeln. „Glaubst du, ich werde je wieder hierher zurückkommen?“ Seine Stimme zitterte, als er einen letzten Blick in die Wohnung warf.
    „Du bist nur ein paar Tage fort. Der Arzt hat es gesagt.“ Jakob schloss die Augen hinter Marius‘ Rücken. Das war es, woran sie beide glaubten. Nur ein paar Tage. Woran sie sich festhielten wie Schiffbrüchige an einer dürren Planke Holz, in der absurden Hoffnung, doch noch ein Stück Land zu erreichen, und sei es noch so öde. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch noch festen Boden unter den Füßen zu gewinnen, und sei er noch so unwirtlich.
    Zwei Wochen zuvor hatte es begonnen, mit einem Blick in den Badezimmerspiegel beim Zähneputzen. Jakob hatte das klappernde Geräusch gehört, als Marius‘ Zahnbürste ins Waschbecken fiel. Er war ins Badezimmer gestürzt, und das Erste, was er bemerkt hatte, war Marius‘ ungläubiger Gesichtsausdruck, der gehetzte Blick in seinen Augen, als starrte er in eine Gewehrmündung.
    „Was?“, hatte er gefragt.
    Marius hatte wortlos den Mund geöffnet und auf das rötlich-violette Geschwür gedeutet, das wie ein Parasit an seinem Gaumen klebte. „Es ist in mir drin“, hatte er gekrächzt.
    Einige Tage hatten es die Ärzte mit der bekannten Bestrahlung versucht, hatten ihre Apparate auf Marius‘ Gaumen gerichtet, bis seine Mundhöhle eine einzige offene Wunde war. Ihren Misserfolg hatten sie erst eingestanden, als er vor Schmerzen heulte, nichts mehr kauen und nur noch flüssige Nahrungsergänzungsmittel schlucken konnte, die aber den Gewichtsverlust nicht aufhielten.
    Wie sehr sie mittlerweile Ärzte hassten! Schon der Anblick von weißen Kitteln rief in Jakob Agressionen hervor. Schon bei der bloßen Andeutung von Ratlosigkeit in ihren Gesichtern wollte er zuschlagen, sie zu blutigem Brei prügeln, sie schütteln, bis sie leblos in seinen Händen hingen wie vom Sturm zerrissene Vogelscheuchen. Marius dagegen begann sich in ihrer Anwesenheit instinktiv zu ducken, versuchte, sich kleiner zu machen, unsichtbar. Und doch konnten sie beide nicht aufhören, den Worten der Ärzte Glauben zu schenken, sogen Hoffnung aus dürren Sätzen, so wie Gläubige bei der Messe dem Heilsversprechen eines Priesters vertrauen. (Doch es ist ein Leben nach dem Tode, das die Kirche verspricht, und Jakob und Marius wollten ein Leben davor. Sie hätten ihre Seelen verkauft für ein paar zusätzliche Jahre, jedem, bedenkenlos.)
    Nach der Bestrahlung hatte es nur noch ein schweres Geschütz gegeben, ein Mittel der letzten Wahl: Chemotherapie. Ja, hatte man ihnen behutsam gesagt, damit könne der Krebs besiegt werden, vielleicht sogar dann, wenn er schon innere Organe befallen habe. Aber das Immunsystem sei sehr geschwächt. Es könne sein, dass die Keule der Chemotherapie die letzten Barrieren zerschlage. Es könne sein, dass … Der Satz war nie beendet, war stattdessen mit bedeutungsvoller Leere gefüllt worden, wie die Kästchen in einem Kreuzworträtsel: Ein anderes Wort für „Lebensende“, drei Buchstaben.
    Marius hatte geweint, als seine Haare auszufallen begannen. Büschelweise verhakten sie sich beim Kämmen in der Bürste, bis auf seiner Kopfhaut nur noch kleine Inseln zurückblieben, wie versprengte Mooskissen auf einem Waldboden. Dicke, schmierige Tränen waren über sein von Geschwüren entstelltes Gesicht geronnen, Rotz aus seiner Nase gelaufen. „Hilf mir, hilf mir!“, hatte er verzweifelt gemurmelt, die Knie an den Oberkörper gezogen, sich hin und her schaukelnd wie ein Kind. Aus Scham hatte er sich weggedreht, wenn Jakob ihn umarmen und festhalten wollte, hatte die Gardinen an den Fenstern zugezogen und in einem Wutanfall alle Spiegel in der Wohnung zerschlagen, um sich nicht weiter ansehen zu müssen. Beruhigt hatte er sich erst, als Truman verstört unters Bett geflüchtet war. Jakob hatte schweigend die Scherben aufgelesen, die Splitter vorsichtig im Müll entsorgt. Die meiste Zeit jedoch verbrachte Marius im Bett, geschüttelt von Fieberschüben, erschöpft vom Erbrechen, und Jakob wachte in seiner Nähe, auf Abruf bereit, genauso entkräftet vom Versuch, wenigstens den Anschein von Alltag aufrechtzuerhalten.
    Manchmal hatten sie sich vors Fernsehen gesetzt, weil sie sich nicht länger im Kreis drehen konnten, weil ihnen ihre eigene Verzweiflung zu viel wurde. Sie hatten zugeschaut, wie Menschen Mauern überwanden; die Stimmen der Reporter gehört, die mit ungläubigem Staunen und

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