Wie Jakob die Zeit verlor
Anlaufpunkt an einem beginnenden Wochenende, auch für Jakob. Es war Zufluchtsort und Abenteuerspielplatz zugleich. Er fühlte sich leichter, erleichtert, wenn er bei Beppo an der Garderobe zusammen mit seiner Jacke seinen Alltag abstreifte. Hier gab es nur schwule Männer – von der einen oder anderen Schwulenmutti abgesehen –, hier war er endlich einmal nicht in der Minderheit. Er genoss dieses Gefühl, ließ sich davon umschmeicheln wie vom warmen Licht einer Höhensonne, ließ den Geschmack dieser Freiheit, dieses Unbeschwertsein, auf seiner Zunge schmelzen wie ein süßes Fruchtbonbon.
Jakob ging zum Tresen, bestellte ein Kölsch und wanderte mit seinem Glas gemächlich Richtung Tanzfläche. Er kletterte auf eines der Podeste und beobachtete die zwei frühen Tänzer, die zur Musik mehr oder weniger im Takt herumhampelten; der DJ spielte Chartmusik, um Stimmung zu verbreiten: Grace Jones und dann Jennifer Rush. „He’s my destiny, and it’s hard to see how I could love him more ...” Jakob sang leise mit, dann, nach ein paar Minuten, begab er sich gelangweilt in den rauchgeschwängerten Keller, setzte sich an die kleine, schummrige Theke, nickte Robert, dem Barkeeper, zu und verfolgte mit einem Auge den Pornofilm, der über die Leinwand flimmerte. Ansonsten taxierte er die Männer, die wie er eine erste Runde drehten, als ob sie ihr Revier markierten. Sein Herz begann schneller zu schlagen und sein Körper schaltete auf Jagdmodus.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er einen Schatten, der von den Toiletten kommend die Bar betrat und sich hinter den Holzbrettern in den Darkroom zwängte. Jemand Großes, jedenfalls größer als er, breitschultrig, mehr hatte er in dem kurzen Moment nicht erkennen können. Augen wie brauner Kandiszucker, die für den Bruchteil einer Sekunde an ihm hängen blieben, bevor sie unter der Treppe verschwanden. Aber das reichte, um Jakobs Interesse zu wecken. Er stand auf, folgte dem Mann, blieb desorientiert im Halbschatten stehen, bis eine Hand sich an ihn herantastete, ihn an sich zog. Vor ihm materialisierte sich wie von Geisterhand ein Kopf, eine Wange mit unregelmäßigem Bartflaum. Wieder diese dunklen Augen, die ihn kühl musterten, einteilten, begutachteten. Jakob fühlte sich merkwürdig nackt und berauscht, ein Schauer kroch über seinen Rücken. Dann brach sich ein kurzes, aufforderndes Grinsen den Weg über die fremden Lippen, bevor sie seine berührten.
„Wie heißt du?“
Erstaunt hielt Jakob inne. Normalerweise wurde eine solche Frage hinterher gestellt, wenn überhaupt. Zögernd nannte er seinen Namen. „Und du?“, flüsterte er zurück.
Da war auch etwas Weiches, Kindliches in den Gesichtszügen, etwas, das sich erst auf den zweiten Blick offenbarte und ihm vorher entgangen war. „Marius.“
Jakob seufzte ungewollt auf, fühlte das Blut in seinen Schläfen pochen, schloss die Augen und erwiderte den Kuss.
Jakob hat die Fotos und den Karton weggeräumt und die Wohnung verlassen. Er läuft durch die Stadt, vorbei an Verkehrsinseln, auf denen bunte Stiefmütterchen im Wind nicken, macht Platz für einen Radfahrer, der auf dem Bürgersteig fährt, kauft sich ein Päckchen Kaugummi an einem Kiosk. Als er im Schaufenster eines Herrenausstatters sein Spiegelbild bemerkt, schreckt er im ersten Moment zurück, denn er kann das, was er sieht, nicht zuordnen. Gleich darauf erfüllt ihn tiefe Resignation. Es ist nicht zu glauben, dass dieser Mann ihn darstellen soll. Diese spärlicher werdenden, wenn auch zum Glück noch nicht völlig ergrauten Haare auf seinem Kopf. Stattdessen gibt es immer mehr davon an Stellen, wo sie nicht hingehören: in der Nase und in den Ohren, auf dem Rücken. Diese Andeutung von Tränensäcken unter den Augen. Fahle, lasche Wangen und hängende Schultern, als wären sie durch jahrelange Büroarbeit gekrümmt und verkümmert. Diese Fettpolster am Bauch, die er mit einem längsgestreiften Hemd zu kaschieren versucht, und diese im Vergleich zu seinem Oberkörper viel zu dünnen Oberschenkel – das kann doch nicht er sein! Das kann doch nicht sein, was nach fünfzig Jahren Lebenszeit aus ihm geworden ist!
Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass er sein Spiegelbild wahrnimmt. Natürlich sieht er sein Gesicht, wenn er morgens die Seife abwäscht und sich rasiert. Sieht seinen Körper, wenn er sich nach dem Duschen abtrocknet, aber das sind eher reflexartige Beobachtungen, bei denen er mit seinen Gedanken dem Tag schon ein paar Stunden voraus
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