Wie Jakob die Zeit verlor
und Beppos Augen ihn für einen kurzen Moment unter die Lupe nahmen.
Es war noch nicht allzu lange her, dass er sich kaum ins „Pimpernel“ hineingetraut hatte. Drei Jahre? Ja, kurz nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag. Damals hatte er eine Stunde auf einer Bank gegenüber der Diskothek gehockt, im mageren Schutz eines winterlich kahlen Baumes nervös an den Fingernägeln gekaut und die Männer beobachtet, die dort Einlass begehrten. Er hatte gesehen, wie sie um die Ecke bogen oder von der Straßenbahnhaltestelle herüberliefen und dann hastig hinter der aufgerissenen Tür verschwanden, als gehörten sie zu einem Geheimbund und nähmen an einem subversiven Treffen teil. Als täten sie etwas Verbotenes.
Mehrmals hatte Jakob Anlauf genommen und war doch wieder nur auf die Bank zurückgesackt. Als er endlich genug Mut zusammengekratzt hatte, um selbst vor die Tür zu treten, und sein Finger den Klingelknopf berührte, hätte er sich fast übergeben vor Aufregung. Aber er hatte genug gehabt von dem anonymen Sex in Pornokinos oder am Aachener Weiher, dem beliebten Cruisinggelände am Rande der Innenstadt, wo alles reduziert wurde auf Schwanz und Arsch. Er hatte endlich jemanden spüren wollen, richtig spüren, hatte mit seinen Händen über fremde Haut streichen und in fremde Augen blicken und darin Erstaunen und Neugier erkennen wollen. Nicht nur Geilheit, nicht nur den Wunsch nach Befriedigung. Dass es in einer Diskothek genauso zugehen konnte wie in den dunklen Ecken eines Kinos, dass es an ihm selbst lag, wenn er jemanden kennenlernen wollte, hatte er erst hinterher begriffen. Rückblickend musste er zugeben, dass er damals noch ziemlich unbedarft gewesen war.
Der Regen, der seit Tagen fast unaufhörlich über dem Rheinland niederging, wurde stärker und fegte in Böen gegen die Häuser. „Komm schon, Beppo“, murmelte Jakob. „Es ist schweinekalt!“
Er schlug den Kragen der hellbraunen, mit Lammfell gefütterten Wildlederjacke hoch, die er zu Weihnachten von seinen Eltern bekommen hatte. Eigentlich hatte er die Feiertage nicht zu Hause verbringen wollen, eigentlich nahm er sich jedes Jahr vor, nicht mehr nach Hause zu fahren, aber dann tat er es doch. Aus Furcht, seine Eltern noch weiter zu verprellen. Aus Mangel an Alternativen, denn trotz seines Studiums an der Uni hatte er in Köln bisher nur wenige Freunde gefunden, und die fuhren auch alle über die Feiertage nach Hause. Die Jugend der Nach-APO-Zeit war eine Mami-Generation, und er steckte mittendrin.
Gemeinsam waren sie aus Prinzip – aber welchem Prinzip? Dem Prinzip, dagegen zu sein? – wegen des Nato-Doppelbeschlusses auf die Straße gegangen, hatten Plakate gegen die Pershing-2-Raketen geschwenkt, sich über Helmut Kohl lustig gemacht, hatten Anti-Atomkraft-Buttons auf ihre Taschen gepinnt, doch am Abend wollten alle zurück ins gemachte Nest. Nicht, dass Jakob sich seinen Kommilitonen moralisch überlegen fühlte, im Grunde war er ja nicht anders, auch wenn er in einer Wohngemeinschaft lebte. Politik interessierte ihn trotz allem nicht sonderlich. Erst seitdem die Grünen im Parlament saßen und ihre Blumentöpfe auf den Sitzpulten deponiert hatten – und damit Jakobs Großvater zur Raserei gebracht und zu dem Ausruf verführt hatten, dass so etwas früher nicht vorgekommen wäre –, nahm er überhaupt wahr, dass sich langsam etwas veränderte. Erst seitdem Petra Kelly mit einer Stimme wie ein Schnellfeuergewehr den Bundestag aufmischte und Joschka Fischer gesagt hatte: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!“, fand er, dass Politik einen gewissen Unterhaltungswert besaß. Dennoch war Jakob viel zu sehr mit sich und der immerwährenden, aufregenden Suche nach Sex beschäftigt, um diese Veränderungen mit mehr als einem Achselzucken zu registrieren. Was waren die Forderungen nach einem Ausstieg aus der Kernenergie im Vergleich zu den lustvoll verbrachten Stunden auf der Uniklappe?
Jakob drückte erneut auf die Klingel, diesmal ein wenig energischer, im selben Moment wurden endlich der Sehschlitz und dann gleich darauf die Tür aufgerissen. Feuchte Wärme und das gedämpfte Geräusch stampfender Beats schwappten ihm entgegen.
„Sorry“, sagte Beppo. „Es gab ein bisschen Chaos. Irgendein Idiot hat seine Garderobenmarke verloren.“ Der Türsteher, ein schlaksiger, blonder Mittzwanziger mit fettigen Haaren und einer langen, gebogenen Nase, nahm Jakobs nasse Jacke mit gespreizten Fingern in Empfang. „Regnet’s etwa
Weitere Kostenlose Bücher