Wie Jakob die Zeit verlor
ist. Er vermeidet es, seinen Körper eingehender zu betrachten.
Einzig seine Augen erinnern ihn an das Bild, das er von sich im Kopf trägt und das einen viel jüngeren und sportlicheren Jakob zeigt. Nur seine Augen haben sich im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht verändert. Sie sind immer noch so blau wie der Himmel in van Goghs „Sternennacht“. (Marius hat das einmal gesagt, als sie zusammen im Bett lagen … ist das wirklich schon über zwanzig Jahre her? … und er hat ihm dieses Lied von Don McLean vorgespielt, „Vincent“, das der amerikanische Songwriter dem berühmtesten aller Maler widmete. Angeblich soll ihn das Gemälde zu dem Lied inspiriert haben. Seitdem war Jakob immer stolz auf seine Augen. Erst viel später, als er „Sternennacht“ im Museum of Modern Art in New York vor sich gesehen hat, ist ihm aufgefallen, dass es ganz viele verschiedene Blautöne im Himmel von van Goghs Gemälde gibt.)
Jakob beugt sich nach vorne, bis seine Nase beinahe das Schaufenster berührt, und sucht krampfhaft nach weiteren Ähnlichkeiten, nach Dingen, die ihn an sein verschwundenes Ich erinnern könnten. Die Hände? Nein, bestimmt nicht. Früher waren seine Hände schmal, seine Finger feingliedrig. Jetzt ist sein Handrücken von dicken, blauen Adern überzogen und seine Finger sehen geschwollen und wurstig aus, die Nagelbetten eingerissen, die Haut rau. Die Oberarme? Selbst unter der leichten Jacke kann er erkennen, dass sich der Bizeps früherer Jahre zurückgebildet hat, nachdem er den Sport aufgegeben hat. Der Hintern? Jakob dreht sich und linst über den Rücken auf sein Spiegelbild, aber bevor er sich ein abschließendes Urteil bilden kann, läuft eine junge Frau mit einem Kinderwagen an ihm vorbei und mustert ihn argwöhnisch. Vielleicht sollte er lieber Arne fragen, wie sein Hintern aussieht. Aber Jakob ist nicht sicher, ob Arne den Grund seiner Frage verstehen würde. Und er weiß nicht, ob Arne überhaupt noch eine Meinung zu seinem Hintern hat.
Er gibt sich einen Ruck und trennt sich von seinem Spiegelbild, lässt den alternden Mann, den auch er nicht mehr verführen wollte, bei den Pullovern und Sakkos zurück und geht ein paar Häuserblocks weiter, bis er vor dem vierstöckigen, hell getünchten Altbau steht, der sein eigentliches Ziel ist. Zwei Erker auf mittlerer Höhe streben nach vorne; jemand hat einen Blumenkasten mit roten Geranien an der Fensterbrüstung befestigt. Sogar von hier unten kann Jakob erkennen, dass da ein Stümper am Werk war. Die einzelnen Pflanzen sind zu eng nebeneinander gesetzt, im Laufe des Sommers werden sie sich gegenseitig ersticken. Immer wieder muss er den Kunden in seiner Gärtnerei sagen, dass Pflanzen Platz zum Wachsen brauchen, Raum, um sich entfalten zu können. So wie Menschen eigentlich. Manchmal wird er dann ungläubig angeglotzt, und er sieht ein verstohlenes Lächeln über ein Gesicht huschen. Solchen Kunden würde er dann am liebsten eine Plastikpflanze in die Hand drücken.
Zwei kleine Jungen toben im geöffneten Hauseingang an ihm vorbei. Jakob muss einen Schritt zur Seite treten, damit sie ihn nicht anrempeln, so vertieft sind sie in ihr Spiel. Er betätigt eine Klingel und steigt die Treppen bis in die zweite Etage empor, dann geht er durch die angelehnte Tür in den zweiten Raum auf der linken Seite und setzt sich auf den Stuhl, der der Tür am nächsten steht. Ein misstrauischer Blick auf seine Armbanduhr sagt ihm, dass er einige Minuten zu spät ist. Wahrscheinlich jedenfalls, seine Uhr geht nie wirklich genau. Früher war das anders. Damals ist er zu jedem Termin rechtzeitig erschienen, war die Pünktlichkeit in Person. Aber seit Marius hat sich der Ablauf der Zeit gegen ihn verschworen. Mal vergeht sie schneller, als er erwartet, und überrumpelt ihn mit ihrer Vergänglichkeit, sodass er sich ständig gehetzt fühlt, sich andauernd sputen muss. Dann wieder hinkt sie hinter ihm her, bewegt sich kriechend wie eine Schnecke, und er ist gezwungen innezuhalten, um ihr die Möglichkeit zu geben, ihn einzuholen. Die Zeit ist wie ein launischer Liebhaber, unberechenbar, unzuverlässig. Jakob hat gelernt, mit ihrer Wankelmütigkeit zu leben. Arne nicht.
Der Raum, in dem er sitzt, ist weiß. Jakob unterdrückt wie jedes Mal den Impuls, aufzuspringen und wegzurennen. Zu viel Zeit hat er in solchen Räumen verbracht, in Wartezimmern, Krankenhausfluren, Laboren und Sprechzimmern. Es ist eine Farbe, die er mit dem Tod verbindet: glitzernd und
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