Wie Jakob die Zeit verlor
klirrend wie ein Januarmorgen, ein eisiger Tag im tiefsten Winter.
Aber dieser Raum ist anders. Die Farbe der Tapete ist kein steriles Weiß, das seine Angst und Hoffnungslosigkeit kühl an sich abperlen lässt, sondern sie erinnert mehr an das sanfte Beige einer aufgeschlagenen, mollig warmen Bettdecke. Dieser Farbton beruhigt seine Sinne und lässt seinen Puls langsamer schlagen.
An der Wand hängt eine verschwommene Fotografie aus schwarzen, roten und grauen Strichen. Es könnten Gebäude sein, alte Fabrikhallen oder vielleicht Bahngleise, eine Industrielandschaft, aber die Umrisse sind zu schemenhaft, um ihnen eine eindeutige Struktur zuzuordnen. In dieses Bild kann er sich vertiefen, wenn er keine Antworten weiß oder wenn ihm nicht zum Reden zumute ist. Nicht, dass er gut darin ist, die dann entstehende Stille auszuhalten. Wenn er schweigt und der Stille lauscht, wird sie größer und größer, bläst sich auf wie ein Heißluftballon, der bald den ganzen Raum ausfüllt, ihn in die Ecke drückt und immer kleiner werden lässt. Und er will sich nicht mehr klein machen, deswegen ist er ja überhaupt hier. Weil er Angst hat, dass er vollkommen verschwindet, wenn er sich weiterhin klein macht. Daher fängt er dann meist wieder an zu reden; seine Lippen hangeln nach dem ersten Gedankenfetzen, der durch sein Gehirn schießt, und stoßen die Worte ruckartig nach draußen. Dann weicht die Stille zurück, und er atmet erleichtert auf. Oft wird Jakob erst hinterher klar, dass er wieder etwas preisgegeben hat, was er eigentlich für sich behalten wollte.
Über der namenlosen Fotografie hängt eine Lampe, die deren Farben in einem gedämpften Gelb ausleuchtet, dann gibt es noch eine Couch mit einem Bezug aus blassen Zickzackmustern und einen weiteren Stuhl. Ansonsten ist der Raum leer. Die Gardinen sind zugezogen, die Fenster geschlossen, um das Rattern der Straßenbahnen und das Hupen der Autos auszusperren, das aufgeregte Geschrei und Lachen der Kinder aus der Ganztagsschule gegenüber, wenn sie nach Unterrichtsschluss auf den Pausenhof drängen. Tageslicht fällt matt auf einen quadratischen Flecken des weichen Teppichs, der jeden seiner Schritte verschluckt. Doch er hat selten Gelegenheit, dem Nicht-Vorhandensein seiner Schritte nachzuspüren, denn meist sitzt oder liegt er in diesem Raum. Das ist die Aufgabe, die Jakob hier hat. Zu sitzen oder zu liegen und zu reden. Zweimal die Woche fünfundfünfzig Minuten lang. Montags und donnerstags.
Die Frau, die diesen Raum und diese Zeit mit ihm teilt, nimmt immer auf dem anderen der beiden Stühle Platz. Auf ihrem Schoß befindet sich immer ein Schreibblock, auf dem sie Notizen macht, wenn Jakob spricht. Sie zückt den Kugelschreiber in unregelmäßigen Abständen, haucht die Spitze an, als müsste sie dem Stift Leben einflößen, und schreibt. Soweit er das erkennen kann – er sitzt nicht nah genug, um sicher zu sein –, sind es meist nur Stichpunkte, häufig versehen mit einem Ausrufe- oder Fragezeichen, in den seltensten Fällen ist es ein ganzer Satz. In all den Monaten hat Jakob noch kein System bei ihren Aufzeichnungen erkennen können. Immer wieder ist er überrascht, wenn der Stift auf den Zettel herabstößt wie ein Habicht, der auf einer Wiese eine Maus erspäht, und er wägt in Gedanken die Worte ab, die seine Therapeutin zu ihren Notizen bewogen haben, dreht sie hin und her und überlegt verzweifelt, ob sie einen tieferen Sinn gehabt haben könnten, der sich ihm nicht erschlossen hat.
Jakob und die hagere, hochgewachsene Frau mit den frühzeitig ergrauten Haaren haben eine ungleiche Rollenverteilung. Er nennt sie förmlich „Frau Dr. Leggs“, und das ist auch völlig in Ordnung, denn er weiß so gut wie nichts über sie. Er hat keine Ahnung, wie alt sie ist – er schätzt sie drei oder vier Jahre jünger als er selbst –, er weiß nicht, ob sie verheiratet ist, ob sie Kinder hat, welche Musik sie gerne hört oder ob sie glücklich ist. Nur wenn er über sie nachdenkt, nennt er sie Silky Legs , eine Anspielung auf ihren Vornamen Silke und ihre Vorliebe für hautenge Jeans. Tatsächlich hat er keine Ahnung, ob ihre Beine in ihrem natürlichen Zustand, also unbekleidet, tatsächlich seidig sind, und im Grunde verbieten sich solche Überlegungen gegenüber der eigenen Therapeutin, zumal, wenn man wie Jakob schwul ist.
Sie nennt Jakob ebenso förmlich „Herr Brenner“, was ihm jedoch komisch vorkommt, denn sie weiß mehr über ihn als irgendjemand anders,
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