Wie keiner sonst / ebook (German Edition)
durcheinander, stellen Fragen über Fragen. Ich höre das Klicken der Kameras.
Mein Vater nimmt mich an der Hand und schiebt sich zwischen Armen und Ellbogen nach vorne, bis wir sie sehen können: Monika. Sie lächelt und gestikuliert abwehrend, sagt, dass die Fragen bis hinterher warten müssten.
Auf dem Weg zum Rednerpult erblickt sie mich und bleibt kurz stehen.
»Hallo«, sagt sie und sieht mich an. Ihre Augen sind tiefgrün. Um uns herum klicken die Kameras. Sie streichelt mir über den Kopf. »Willst du auch meine Rede hören?«
Ich nicke.
»Dann muss ich mir ja Mühe geben.«
Sie tritt ans Rednerpult und klopft mit dem Zeigefinger ans Mikrofon.
»Schön, dass ihr kommen konntet.«
Sie redet lange. Am Anfang versuche ich zu verstehen, was sie sagt, aber bald höre ich nur noch auf ihre Stimme. Ich betrachte ihren Mund, der Worte formt, die wie Musik klingen.
Die Bleistifte auf den Notizblöcken sind der Chor, und sie dirigiert. Ein paar Mal bin ich ganz sicher, dass sie mich ansieht. Sie spricht die Sprache der Vögel, und ich bin der Einzige, der es weiß.
Monika bedankt sich noch einmal bei allen für ihr Kommen. Sie beantwortet ein paar Fragen und packt ihr Konzept zusammen. Als sie vom Rednerpult hinabtritt, öffnet mein Vater den Schulranzen auf meinem Rücken. Er holt etwas heraus, und der Ranzen wird leichter. Bestimmt die Trinkflasche, er hat Durst. Aber ich höre keinen Verschluss. Stattdessen sehe ich, wie mein Vater zwischen Kameras und ausgestreckten Mikrofonen nach vorne eilt. Er hält etwas in der Hand, ich kann nicht erkennen, was es ist, aber es sieht nicht wie die Trinkflasche aus.
Dann schieben sich Rücken dazwischen, und ich verliere ihn aus den Augen.
Eine Frau schreit auf, dann höre ich viele laute Rufe und Stimmen.
Ich gehe auf den Lärm zu. Ich habe keine Angst, weiß, dass mein Vater irgendwo dort ist. Ich werde ihn finden. Es ist nicht schwer, durch die Menschenmenge zu kommen, alle sind erstarrt, ein Wald aus Armen und Beinen, ich ducke mich unter den Ästen hindurch.
Monika hat aufgehört zu schreien, aber ihr Mund ist noch immer weit offen, die Augen aufgerissen. Mein Vater liegt vor ihr auf dem Boden. Ein Mann liegt auf seinem Rücken, ein anderer drückt das Knie auf seinen ausgestreckten Arm. Neben der Hand meines Vaters liegt das Küchenmesser. Ich erkenne den dunklen Schaft, gestern habe ich Zwiebeln und Karotten damit geschnitten.
1996
I ch sitze am Esstisch in der Küche und trinke ein Glas Orangensaft.
Durch die Glastür kann ich in den Garten sehen. Es ist Februar, und das Schwimmbecken ist leer bis auf ein paar braune, halb verfaulte Blätter. Hinter dem Pool erhebt sich der Bahndamm.
Ich sitze in der Küche und warte. Ich bin sechzehn Jahre alt und gehe in die neunte Klasse.
Die Haustür geht auf, meine Mutter und mein Stiefvater kommen nach Hause. Michael schaltet den Fernseher ein und stellt den Ton ab. Er liest die Nachrichten im Videotext, eine Gewohnheit aus seiner Zeit als Journalist. Heute ist er Pressesprecher eines Pharmakonzerns.
Karin betritt die Küche. Sie ist dunkelblond, unterrichtet auf einem Gymnasium und verfasst Lehrbücher.
»Bist du fertig?«, fragt sie. Sie hat sich damit abgefunden, dass ich sie nicht »Mutter« nenne.
Ich nicke.
»Ist die Babysitterin da?«
»Sie ist oben bei Clara«, antworte ich.
Meine Schwester steht in der Tür und winkt, als wir ins Auto steigen. Die Einfamilienhäuser, an denen wir vorbeifahren, gleichen dem von Karin und Michael fast aufs Haar. Manche haben einen Wintergarten anstelle eines Carports, oder einen Fahnenmast anstatt einer Vogeltränke.
Die Schule ist ein niedriges Gebäude, das genauso gut ein Schwimmbad oder eine Bibliothek sein könnte. In der Eingangshalle hängen in kräftigen, hellen Farben Bilder eines lokalen Künstlers. Sie stellen junge Menschen mit Büchern, Skateboards und Walkmen dar.
Wir gehen durch lange Gänge, an den unverputzten Backsteinwänden hängen Bilder von jüngeren Schülern. Ein Eichhörnchen, das eine Nuss frisst. Auf dem nächsten Bild liegt es ertrunken in einer Ölpfütze.
Das künstliche Licht erreicht kaum die Ecken des Klassenzimmers. Mitten im Raum stehen zwei Tische, darauf eine Thermoskanne und Tassen. Heute hat mein Dänischlehrer ein Hemd angezogen und die Haare gekämmt. Nervös sortiert er die Unterlagen, die vor ihm liegen. Schaut auf die Uhr. »Karsten Eriksen müsste gleich hier sein. Er möchte auch gern mit Ihnen reden.«
»Das hört
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