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Wie keiner sonst / ebook (German Edition)

Wie keiner sonst / ebook (German Edition)

Titel: Wie keiner sonst / ebook (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas T. Bengtsson
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in der Küche, er im Wohnzimmer oder im Büro.«
    Mit abwesendem Blick starrt sie an die Wand.
    »Ich weiß nicht, was er mit deinem Vater gemacht hat. Aber … es war jedenfalls nichts Gutes.«
    Sie trocknet die Tränen mit dem Ärmel, wie ein Kind, das sich Rotze abwischt. Ihr Make-up verwischt bis zur Stirn hinauf.
    »Ich weiß, was du denkst«, sagt sie. »Du denkst, dass er deinen Vater missbraucht hat. Aber ich weiß nicht, was er getan hat. Ich wäre damals nie auf die Möglichkeit gekommen, ich wusste ja nicht einmal, dass es so etwas gibt. Heute heißt es immer gleich ›Missbrauch‹. Als gäbe es keine anderen Methoden, Kinder zu misshandeln.«
    Sie hält ein und schluchzt.
    »Aber als dein Vater mit dir abgehauen ist, da wusste ich, dass es damit zusammenhing. Wahrscheinlich ist er deshalb auch krank geworden …«
    Sie wartet, bis ihre Tränen getrocknet sind, dann steht sie auf und geht die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
    Ein Mann drückt mir ein Wasserglas in die Hand und füllt es mit Schnaps. Ich sitze auf der Treppe zur Küche. Die Männer heben ihre Gläser und prosten mir zu. Ich muss an die Tiersendungen denken, die ich mit Clara gesehen habe, an den Taucher im Stahlkäfig und die Haie, die in die Gitterstäbe bissen.
    Die Männer trinken, grölen und singen.
    In Gedanken zeichne ich sie. Ich zeichne einen Mann, der über dem Tisch hängt und versucht, sein Glas beim Einschenken zu treffen. Ich zeichne einen Mann, der die Flasche an den Mund setzt, Glas und Gesicht verschmelzen miteinander.

I ch liege im Bett, die letzten Gäste sind vor einer knappen Stunde gegangen. Der Gesang der Männer wurde immer undeutlicher, bis nur noch Gemurmel zu hören war, und allmählich leerte sich das Haus.
    Es ist früh am Morgen und noch dunkel. Ich ziehe mich an und setze den Rucksack auf. Dann schleiche ich die Treppe hinunter. Das Haus riecht nach Rauch. Ich gehe in das Büro meines Großvaters, öffne die Schreibtischschublade und nehme die Zigarrenkiste heraus. Es sind weniger Banknoten als vor ein paar Tagen, die Beerdigung ist bezahlt. Ich stecke alles in die Tasche, ohne es zu zählen, es sind etwa zehntausend Kronen oder mehr. Auch die Fotografien meines Vaters als kleiner Junge stecke ich in den Rucksack. Da geht das Licht an. In ihrem dunkelblauen Nachthemd ist meine Großmutter nicht viel größer als ein Kind.
    »Ich gehe jetzt«, sage ich.
    Sie antwortet nicht.
    »Ich habe dein Geld genommen«, sage ich.
    »Warum?«
    »Ihr schuldet es mir. Ihr schuldet mir viel mehr.«
    »Das kannst du nicht tun.«
    »Ruf die Polizei. Ich werde alles sagen, was mein Großvater mir erzählt hat, bevor er starb.«
    Als sie ihren Mann in die Erde senkten, sah ich nicht die kleinste Regung in ihrem Gesicht. Nun zieht sich ihr Mund zusammen, und ihre Augen werden schmal.
    Ich schließe die Tür hinter mir, die Morgenluft ist kalt. Ich gehe hinunter zum Fährhafen.
    Auf dem Weg durch das Land schlafe ich fest und traumlos. Mit halb geschlossenen Augen zeige ich dem Schaffner die Fahrkarte.
    Ich komme im Kopenhagener Hauptbahnhof an und laufe zur S-Bahn. In zwölf Minuten geht mein Zug.
    Ich sitze auf einer Bank und ziehe die Jacke fest um mich.
    Als die S-Bahn einfährt, habe ich mich entschieden. Vielleicht habe ich die ganze Zeit gewusst, was ich tun würde. Ich dachte, ich hätte das Geld aus Rache genommen, aber im Unterbewusstsein dachte ich wahrscheinlich schon an diese Möglichkeit. Ich gehe über die Fußgängerbrücke, weg vom Hauptbahnhof. Hinaus in die Stadt.

1999

Z uerst ein Klicken, Metall auf Metall, dann ein lautes Summen. Das Rollband ist angegangen, die erste Kiste Briefe kommt auf mich zu. Ich nehme sie vom Band und stelle sie in mein Regal.
    Hinter mir mimt Kasper ein Trommelsolo zur Musik in seinem Kopfhörer. In jedem Verschlag arbeiten zwei Leute. In unserer Halle sortieren wir Briefe, die nicht in Maschinen passen. In der Halle über uns werden Pakete sortiert.
    Die erste Stunde ist immer die schwierigste. Danach sehen die Augen die Postleitzahl von selbst, die Hände reichen automatisch die Briefe weiter und stecken sie ins richtige Fach. Das Postregal ist aus blauem Metall. Das Rollband rattert, und mehr gelbe Plastikkisten kommen auf uns zu.
    »Hey, Türke«, höre ich und drehe mich um. Kasper zeigt auf sein Handgelenk, obwohl er keine Armbanduhr trägt, ich nehme den Kopfhörer ab.
    »Es ist Pause, Türke.«
    Seit zwei Jahren heiße ich Mehmet Faruk, das ist der Name in meinem Pass und auf

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