Wie kommt das Salz ins Meer
ziehen. Ein langer schwarzer Stengel war es, aus dem Wasser spritzte, als der Standesbeamte ihn knickte. Wir müssen ihn herausziehen, sagte er zu Rolf, aber Rolf hatte es eilig und wollte nicht warten. Ich riß an dem Stachel, da war plötzlich ein Loch in meiner Armbeuge. Das ist noch nicht alles! rief der Mann, und jetzt war es nicht mehr der Standesbeamte, sondern der Pfarrer. Ziehen Sie fest! rief er, und ich zog und zog und zog, und da war eine Pflanze in meinem Arm, mit Blütenkelchen, Staubgefäßen, und ich zog und zog und zog, und da waren neue Kelche, die sahen aus wie fruchtige Disteln, und das hörte nicht auf, und ich mußte immer wieder ziehen, und ich erwachte erschöpft, und Rolf lag wach neben mir. Da hob der Standesbeamte sein Buch, hielt eine Rede, auf die er sehr stolz war, und er zeigte uns, daß er sie mit Füllfeder geschrieben hatte, eine gestochene, klare Schrift war es, und Großmutter stand hinter mir, und sie sagte, das sei eine sympathische, anständige Handschrift. Und Rolf hatte überhaupt nicht geschlafen!
Rote, gelbe, ockerfarbene Häuser, Gebirge mit Schnee und blauem Himmel, Brescia, Milano, wie schön sich das anhört: Milano. Das hab ich als Kind vor mich hingesungen, Milano, ich möchte wieder ein Kind sein. Rolf kennt sich hier aus. Er war schon einige Male in Mailand. Und wir kommen nach Genua. Rolf erklärt mir alles Wissenswerte über den Hafen und seine wirtschaftliche Bedeutung. Endlich Florenz. Florenz klingt schöner als Firenze. Rolf findet das auch. Darüber bin ich froh. Man hätte vor fünfhundert Jahren hier leben müssen. Das wäre ein gutes Leben gewesen. Rolf findet das nicht. Er hört sich die Geschichte des Pontevecchio aus einem Automaten an, in den man hundert Lire steckt. Er ist gekränkt, weil ich diese Geschichte nicht hören will. Dann beginnt es zu regnen. Das ärgert ihn noch mehr. Wo doch der Regen den Arno ganz gelb macht und den Himmel so tief, alles eintaucht in Farben. Michelangelo ist über diese Pflastersteine gegangen, barfuß. Glaubst du, daß es damals keine Schuhe gab? fragt Rolf. Michelangelo hat vielleicht einmal seine Hand auf diese Türklinke gelegt. Ein kleines, heimliches Glück. Ich stehle mir Splitterfreuden aus Rolfs Tag. Im Hotel steht ein Fernsehapparat, darin schwimmen Cary Grant und Grace Kelly. Es geht um Millionen. Rolf will die Geschichte sehen. Im Bad schrubbt er mir den Rücken, und da fällt ihm auf, daß ich zu große Zehen habe für so kleine Füße. Ich sage, daß es sich gut geht mit meinen Zehen. Und gute Nacht! Nein, sagt er, so war das nicht gemeint.
Italien ist ein Stiefel. Wir fahren den Reißverschluß hinunter. Dort drüben kannst du den Apennin sehen. Liebes. Wie ist es eigentlich im Apennin? Uninteressant. Wieso? Sonst würde man ja darüber hören, wenn es was Interessantes dort gäbe. Es ist wahr. In Geografie haben wir nur gelernt: Apennin. Und sonst nichts. Sind die Italiener richtige Nachfahren der Römer? Sicher, sagt Rolf. Er weiß es. Und weiß auch, wie man Autokarten liest, wie das mit den Benzinmarken geht, daß die Italiener Gauner sind. La strada. Le strade. Du willst Italienisch lernen? Warum nicht, una birra, due birre. Hör doch auf, das ist ja keine Sprache. Uomo avvisato, mezzo salvato! Quando nacqui, mi disse una voce: tu sei nato a portare la tua croce. Willst du mich ärgern? Woher hast du dieses Buch? Lerne lieber Spanisch, das hat Zukunft!
Aber Rom, Rom, wirklich nach Rom! Die Großmutter hat von den Katakomben erzählt und vom Gepäckträger, der sie schon kennt. Sie schreibt eine Karte jedes Jahr, bevor sie nach Sizilien reist, dann holt der Gepäckträger sie in Rom von ihrem Waggon ab. Sie bringt ihm jedes Jahr eine Schachtel Zigaretten mit. Und die Großmutter hat alle drei Päpste gesehen, und von allen hat sie sich den Segen geholt. Der Papst Pius war ihr am sympathischsten. In Rom ist alles anders, hat die Großmutter gesagt, weil es die Ewige Stadt ist. Aber Rolf hat ein Büchlein, darin steht, wohin man gehen muß in Rom. Den Petersdom haben wir uns größer vorgestellt. Jetzt vertragen wir uns wieder. Glaubst du, Rolf, daß der Papst eine Freundin hat? Möglich. Hat er eine oder hat er keine? Wahrscheinlich, sagt Rolf. Noch ganz andere Sachen habe ich über den Papst gehört, aber ich merke, daß Rolf so was nicht interessiert, weil es in einem französischen Sexmagazin gestanden ist. Und die Kardinäle? Lauter Atheisten, sagt Rolf, Kirche ist doch Politik wie alles
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