The Weepers - Wenn die Nacht Augen hat: Band 2 - Roman (German Edition)
Eins
Vor 14 Tagen, 17 Stunden und 22 Minuten hatte mich Joshua vor den Weepers gerettet. Wie ein Albtraum zog die Erinnerung an mir vorbei. Seitdem war so viel passiert, dass mir die Zeit viel länger vorkam. Wie konnte es sein, dass erst 14 Tage, 19 Stunden und 31 Minuten vergangen waren, seit Dad und ich den Bunker verlassen hatten, in dem unsere Familie 1 141 Tage verbrachte?
Erst 21 331 Minuten in dieser neuen, zerstörten Welt – und schon jetzt war mir alles viel zu viel.
Ich fuhr mit der Hand durch Joshuas blondes Haar – es wirkte fast silbern im Mondlicht. Seine Wimpern flatterten, doch er schlief weiter mit dem Kopf in meinem Schoß. Ich brachte es nicht übers Herz, ihn zu wecken, obwohl er jetzt offiziell die Wache übernehmen musste. Ich schaute zum Himmel auf. Von meiner Position auf dem Dach des Hauptgebäudes aus konnte ich meilenweit sehen. Hier oben wirkte alles ruhig, doch wir wussten es besser. Die Weepers hatten vor zehn Tagen Safe-haven angegriffen und meine Großmutter getötet. Seitdem hatte sich Joshua nicht mehr als ein paar Stunden Schlaf gegönnt. Er war erschöpft; wir alle waren erschöpft. Eigentlich hätten wir Safe-haven schon lange verlassen müssen. Hier war es zu gefährlich. Joshua hob den Kopf. Einen Augenblick lang sah er sich orientierungslos um, bis ihm wieder einfiel, dass wir auf dem Dach waren. Ich rutschte auf den Ziegeln herum, die unangenehm gegen meinen Rücken drückten. Joshua fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und blinzelte mich an. »Wie spät ist es?«
»So gegen fünf.« Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Mond stand schon tief am Himmel.
»Du hättest mich wecken müssen«, sagte Joshua mit schlechtem Gewissen.
Ich küsste ihn auf die Lippen. Er legte seinen Arm um meine Hüfte. »Schon okay. Du brauchst Schlaf, und hier war ja alles ruhig.«
Ich bereute sofort, dass ich das gesagt hatte. Joshua ver steifte sich. Die Welt war vieles geworden – aber ruhig war sie nicht. Nicht mehr, seit vor drei Jahren die Tollwut ausgebrochen war. Mein Blick wanderte über die sanften, von Reben bedeckten Hügel rund um das Weingut. Bei unserer Ankunft vor 14 Tagen und 15 Stunden hatte ich erfahren, dass meine Familie und ich nicht die ein zigen Überlebenden waren. Dieser Ort war zu meiner Hei mat geworden, und nun würde ich diese Heimat ebenfalls verlieren.
Die Gänge zwischen den Weinreben lagen im Schatten. Dort konnte sich alles Mögliche verstecken. Wir hatten alle Weepers, die uns angegriffen hatten, getötet. Doch das bedeutete nicht, dass nicht noch weitere angreifen würden.
»Glaubst du, dass dein Dad heute gesund genug für die Abreise ist?«, fragte Joshua. Dieselbe Frage hatte er mir schon gestern gestellt, und ich hatte meine Bedenken beiseite gewischt, obwohl ich mir insgeheim ebenfalls Sorgen machte.
»Keine Ahnung. Letzte Nacht sah er etwas besser aus.«
Vor dem Wachdienst hatte ich Dad in dem zu einer Krankenstation umfunktionierten Cottage besucht. Mom hatte mich zwar voller Hoffnung angesehen, Dads Haut hatte aber vor Schweiß geglänzt. Karen hatte behauptet, dass das ganz normal sei. Er brauchte Zeit, um wieder ge sund zu werden. Aber möglicherweise hatte sie das nur gesagt, um mich zu trösten.
Die Weepers hatten Dad entführt. Vor zwölf Tagen konnten ihn Joshua und ich aus ihrem Nest befreien. Dad hatte einen großen, eitrigen Schnitt im Bein davongetragen. Obwohl Karen – eine der Überlebenden von Safe-haven und ausgebildete Krankenschwester – sich um ihn kümmerte, war die Wunde noch nicht verheilt. Jetzt befürchteten wir alle das Schlimmste; was, wenn das Fieber und seine Schwächeanfälle nicht von einer Infektion der Wunde herrührten? Was, wenn Dad sich mit dem Virus angesteckt hatte? Was, wenn sich Dad langsam und unter großen Schmerzen in einen Weeper verwandelte?
»Das wird schon wieder«, sagte Joshua und legte seinen Arm um mich.
»Das kannst du nicht wissen«, entgegnete ich. »Und wenn es immer schlimmer wird? Wenn es wirklich die Toll wut ist? Wenn wir ihm nicht helfen können, ist er verloren.«
Joshua schwieg. Er wusste, dass ich recht hatte. Die Westküste war inzwischen nur noch ein verlassenes Ödland. Die Regierung hatte einen Zaun quer durch Amerika errichtet, um die Tollwut einzudämmen – und hatte damit uns, die Überlebenden, zu einem Dasein voller Schrecken und der ständigen Angst vor dem nächsten Weeper-Angriff verdammt. Nach wie vor war es fast unvorstellbar, dass die Leute nur
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