Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
wenn ein Buch unauffindbar oder vermisst ist, oder aber, wenn seine Suche das Leben derer in Gefahr bringt, die es lesen möchten.
Nun aber gelangt man meistens genau auf diesem Weg zu den Büchern. Viele Bücher, über die wir sprechen müssen und die für manche sogar eine wichtige Rolle im Leben gespielt haben, sind eigentlich nie durch unsere Hände gegangen (auch wenn wir manchmal vom Gegenteil überzeugt sind). Doch die Art, wie sich die anderen vor uns oder untereinander in Texten oder Gesprächen darüber äußern, macht es uns möglich, uns eine Vorstellung über ihren Inhalt zu bilden und sogar ein fundiertes Urteil über sie zu fällen.
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In seinem Roman
Der Name der Rose
[ 1 ], dessen Geschichte im Mittelalter spielt, erzählt uns Umberto Eco, wie ein Mönch mit dem Namen William von Baskerville in Begleitung von Adson – ein junger Mann, der die Geschichte viele Jahre später, als er selbst alt geworden ist, niederschreibt – in einer Abtei im Norden Italiens, in der sich ein suspekter Todesfall ereignet hat, ermitteln soll. Dieser aber ist nur der erste einer ganzen Serie von sieben Todesfällen, denen Baskerville ein Ende setzt, indem er den Schuldigen entlarvt.
Im Zentrum dieser Abtei wurde eine riesige Bibliothek errichtet, die größte des Christentums, erbaut in Form eines Labyrinths. Dieser Bibliothek kommt innerhalb der Religionsgemeinschaft und somit des Romans eine große Bedeutung zu, sowohl als Ort des Studiums wie der Reflexion, und da sie zentraler Teil eines ganzen Systems von Verboten ist, welche das Recht zum Lesen reglementieren, werdendie Bücher den Mönchen erst nach Vorzeigen einer Autorisierung ausgehändigt.
Bei seiner Suche nach der Wahrheit über die Morde befindet sich Baskerville in Konkurrenz zur Inquisition in Gestalt ihres furchterregenden Vertreters Bernard Gui, der überzeugt ist, dass die Häretiker für diese Untaten verantwortlich sind, insbesondere die Adepten des Dolcino, des Gründers einer dem Papsttum feindlichen Sekte. Er schafft es, mehreren Mönchen durch Folter Geständnisse abzuringen, die seinen Wünschen entsprechen, allerdings ohne Baskerville von der Richtigkeit seiner Argumente überzeugen zu können.
Denn der Ermittler seinerseits gelangt zu einem anderen Schluss. Er denkt, dass die Todesfälle in keiner direkten Beziehung zur Häresie stehen, sondern dass die Mönche sterben mussten, weil sie versucht hatten, ein mysteriöses Buch zu lesen, das in der Bibliothek eifersüchtig gehütet wird. Und er verschafft sich nach und nach eine Vorstellung vom Inhalt dieses Buches und von den Gründen, warum derjenige, der den Zugang verbietet, zum Mord schreitet. Die gewalttätige Konfrontation mit dem Mörder auf den letzten Seiten des Romans provoziert einen gigantischen Brand der Bibliothek, die von den Mönchen nur mit knapper Not vor der Zerstörung bewahrt werden kann.
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In der letzten Szene des Buches stehen sich also der Ermittler und der Mörder, der sich als der blinde Jorge entpuppt, einer der ältesten Mönche der Abtei, Auge in Auge gegenüber. Dieser beglückwünscht Baskerville zur Lösung und strecktihm, während er sich scheinbar geschlagen gibt, den Band hin, der schuld ist an so vielen Todesfällen. Das heterogene Buch enthält einen arabischen und einen syrischen Text, eine Interpretation der
Coena Cypriani
[ 2 ] – eine Parodie der Bibel – und schließlich einen vierten Text auf Griechisch, der Anlass für die vielen Morde war.
Bei dieser hinter den anderen versteckten Schrift handelt es sich um den zweiten Band von Aristoteles’ berühmter
Poetik[ 3 ],
ein Werk, das noch nicht in die bibliografischen Verzeichnisse aufgenommen worden ist, in dem der griechische Philosoph seine Gedanken über die Literatur weitergeführt haben soll, indem er sich diesmal für die Frage des Lachens interessierte.
Als Jorge von Baskerville beschuldigt wird, verhält er sich höchst sonderbar. Statt den Ermittler daran zu hindern, das Buch in die Hand zu nehmen, fordert er ihn im Gegenteil auf, es zu lesen. Baskerville gehorcht ihm, sieht sich aber vor und streift sich Handschuhe über, bevor er es ergreift. So ist er in der Lage, die ersten Zeilen eines Textes zu lesen, der ihm zufolge bereits mehrere Opfer gekostet hat:
»Im ersten Buch haben wir die Tragödie behandelt und dargelegt, wie sie durch Erweckung von Mitleid und Furcht eine Reinigung von ebendiesen Gefühlen bewirkt. Hier wollen wir nun, wie besprochen, die Komödie behandeln
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