Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
genügte, daß Boethius den philosophen zu kommentieren begann, und schon verwandelte sich das Mysterium des göttlichen Wortes in die menschliche Parodie der Kategorien und Syllogismen. Das Buch der Genesis hatte alles gelehrt, was man wissen mußte über die Zusammensetzung des Kosmos, doch es genügte, daß man die physikalischen Bücher des philosophen wiederentdeckte, und schon wurde das Universum neugedacht in Begriffen dumpfer und schleimig-ekliger Materie […]. Jedes Wort des PHILOSOPHEN , auf den mittlerweile sogar schon die Heiligen und die Päpste schwören, hat das Bild der Welt etwas mehr entstellt. Das Bild Gottes indessen hat er noch nicht zu entstellen vermocht. Würde jedoch … wäre jedoch dieses Buch zum Gegenstand offener Ausdeutung und Debatte geworden, so hätten wir auch diese letzte Grenze noch überschritten.‹«[ 7 ]
Nicht das Lachen allein, sondern vor allem seine Protektion durch Aristoteles ist es also, was die Gefahr ausmacht für die Religion und in den Augen Jorges die Morde legitimiert. Mit Unterstützung eines solchen Philosophen droht die Theorie, dass das Lachen wohltuend – oder ganz einfach unschädlichist, weite Verbreitung zu finden und die Lehre des Christentums zu untergraben. Wenn er die Mönche daran hindert, sich dem Buch zu nähern, begeht Jorge seiner Ansicht nacheine fromme Tat, die durchaus ein paar Opfer wert ist, sind sie doch der Preis, um den wahren Glauben zu retten und ihn vor Fragen zu schützen.
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Wie aber hat Baskerville die Wahrheit herausgefunden? Mit Sicherheit hat er das Buch vor der letzten Szene – wo er sich außerdem vor jedem direkten physischen Kontakt hütet – nicht in der Hand gehabt, noch weniger also gelesen, trotzdem aber ist es ihm gelungen, sich eine ziemlich genaue Vorstellung darüber zu machen, sodass er in der Lage ist, Jorge den Inhalt vorzutragen:
»So nahm dieses Buch allmählich in meinen Gedanken Gestalt an. Ich könnte dir leicht seinen ganzen Inhalt erzählen, ohne die Seiten zu lesen, die mich vergiften sollten. Die Komödie entsteht in den
komai,
das heißt in den Dörfern der Bauern, und zwar als fröhliches Spiel nach reichlichem Mahl oder nach einem Fest. Sie handelt nicht von berühmten und mächtigen Menschen, sondern von gemeinen und komischen, die aber nicht böse sind, und sie endet auch nicht mit dem Tod des Helden. Die Wirkung der Lächerlichkeit erreicht sie, indem sie die Mängel und Laster der gewöhnlichen Leute zeigt. Aristoteles sieht in der Anlage und Bereitschaft zum Lachen eine Gutes bewirkende Kraft, die auch Erkenntniswert haben kann, wenn die Komödie durch witzige oder geistreiche Rätsel und überraschende Metaphern, in welchen die Dinge anders dargestellt werden, als sie sind, also gleichsam durch Lügen uns zwingt, genauer hinzuschauen,bis wir auf einmal sagen: Sieh da, so ist das also, das hatten wir nicht gewußt! […] Habe ich recht?‹«[ 8 ]
Es ist also möglich, mit relativer Genauigkeit (»Ich könnte dir leicht seinen ganzen Inhalt erzählen«) von einem Buch zu sprechen, das man nie in der Hand gehalten hat, eine Feststellung, die nicht unwichtig ist, wenn seine Berührung tödlich ist. Der Grund dafür ist, dass jedes Buch einer Logik gehorcht, woraus Valéry die Konsequenz zieht, sich nur noch für diese Logik zu interessieren. Das Buch von Aristoteles nun situiert sich als Erstes als Fortsetzung der
Poetik,
die Baskerville gut kennt, und wenn man, ausgehend von seinem erahnten Gegenstand, die Kraftlinien des ersten Buches weiter verfolgt, ist man in der Lage, seinen Grundgedanken zu erraten.
Darüber hinaus gehorcht das Werk noch einer weiteren Logik, der Logik seiner inneren Entwicklung, die Baskerville auch hier wieder im Vergleich mit anderen Büchern von Aristoteles aufzustellen imstande ist. Die Vorgehensweise eines Buches ist nie ganz einzigartig. Sämtliche Werke eines Autors zeigen mehr oder weniger auffällige Ähnlichkeiten des Aufbaus und verraten insgeheim, über ihre offenkundigen Unterschiede hinaus, eine identische Art, die Wirklichkeit zu ordnen.
Aber noch ein drittes, genauso wichtiges Element – das dem Werk nicht mehr innerlich, sondern äußerlich ist – kann uns über den Inhalt des Buches Aufschluss geben, nämlich die Reaktionen, die es hervorruft. Ein Buch begrenzt sichnicht auf sich selbst, es ist vom Augenblick seines Erscheinens an von einem ständig sich wandelnden Meinungsaustausch bestimmt, den seine Verbreitung in Gang setzt. Man kann also,
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