Wie Tau Auf Meiner Haut
pochte qualvoll, aber sie hatte gesehen, dass die Wunde nicht besonders
tief war. Niall half ihr auf die Beine und stützte sie, bis sie ihr Gleichgewicht
gefunden hatte.
Er blickte sich um und hielt sein Gesicht in die Brise. Sein Blick streifte zwei
Autos, zwei englische Mietwagen, die neben den ehemals vorhandenen
Pferdeställen geparkt waren. »Automobile«, bemerkte er verwundert. »Bis jetzt
habe ich nichts als dieses verfluchte Verlies und diesen Irren darin gesehen.«
»Es war ein Bunker«, korrigierte ihn Conrad.
Niall zuckte angesichts der unterschiedlichen Wortwahl die Schultern. »Es muss
wohl jetzt viele Wunder zu bestaunen geben«, sagte er gedankenverloren. »Aber
auch viel Schreckliches.«
»So ist es.« Conrads Augen hefteten sich auf Niall. Diesmal war sein Blick
ausnahmsweise einmal nicht kalt. Grace konnte aus seinem Gesichtsausdruck
nicht schlau werden, aber unvermittelt wurde ihr klar, dass Conrad, ohne zu
zögern, sein Leben für Niall opfern würde. In diesem Moment verzieh sie ihm
alles.
Niall neigte den Kopf und musterte sie ruhig. »Ich muss gehen«, sagte er.
»Gehen? « Kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, als sie sich ihrer
Lächerlichkeit bewusst wurde. Natürlich musste er gehen, er war schließlich der
Hüter des Schatzes.
»Ich könnte nicht hier bleiben, selbst wenn ich es wollte.« Er nahm ihr Gesicht
zwischen die Hände und streichelte ihr zärtlich Wangen und Lippen. »Meine
Pflicht wartet dort auf mich.« Er beugte sich vor, um sie zu küssen. Seine
weichen Lippen berührten nur ganz leicht ihren Mund. Dann ließ er von ihr ab
und entfernte sich. Sie hörte, wie er die Worte vom Wasser und Salz wiederholte.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu und versuchte seinen Namen zu rufen, aber
die Panik verweigerte ihr die Stimme. Ein grelles Licht blendete sie. Als sie
wieder sehen konnte, war Niall verschwunden.
»Niall! « Zu spät. Sie humpelte in Richtung des Felsens, wo er eben noch
gestanden hatte. Eine unbändige Angst stieg in ihr auf, eine Angst, für die sie
keinen Namen fand.
Conrad ergriff ihren Arm. »Er ist weg. Er ist der Hüter.« Das schien ihm
Erklärung genug.
»Er ist ein Mensch! « Grace wirbelte mit irrendem Blick zu ihm herum. »Er ist
genau wie jeder andere ebenso Mensch! « Sie spürte, wie angesichts des so
unendlich schmerzlichen Verlustes dunkle Wogen der Ohnmacht auf sie
zuschwappten. »Er isst und schläft und atmet und blutet. Er hat keinerlei
übernatürliche Kräfte oder irgend so etwas...«
»Nein«, erwiderte Conrad und führte sie von den Ruinen weg. »Aber Gott hat
sie.« Er lenkte sie zu einem der beiden Mietwagen. »Der Hüter muss seine
Aufgabe dort erfüllen - und wir unsere hier.«
Sie stolperte, ihre Beine knickten unter ihr weg. Wortlos hob Conrad sie in seine
kräftigen Arme und trug sie zum Wagen. Sie saß wie betäubt, als sie von den
Ruinen wegfuhren. Und innerlich brach für sie eine Welt zusammen, weil Niall
nicht mehr da war.
»Der Mann ist mir einfach unheimlich«, murmelte Harmony, ihren Blick auf
Conrad gerichtet. Conrad saß neben Kris. Gemeinsam holten sie jede
Stiftungsdatei auf den Computerschirm und vernichteten sie. Es war Nacht, und
sie waren in dem Gebäude ganz allein. Conrad und Kris hätten die Arbeit auch
alleine erledigen können, aber Grace musste dabei sein, weil ihre Nerven ihr
einfach keine Ruhe ließen. Harmony war mitgekommen, weil sie sich wegen
Grace Sorgen machte. Grace wiederum sah so aus, als ob sie beim kleinsten
Anlass zusammenbrechen würde. »Etwas merkwürdig ist er schon«, stimmte
Grace zu. Sie hatte mittlerweile über einen Monat mit Conrad verbracht.
Dennoch wusste sie kaum mehr über ihn als an dem Tag, an dem Parrish
gestorben war. Er sprach nicht über sich selbst, und sie wusste, zu welchen
Taten er fähig war. Man mochte ihn einen unbeirrbaren Killer nennen und damit
vielleicht richtig liegen. Er hatte sich jedoch als unverzichtbar erwiesen, hatte
Dinge organisiert und Harmony angerufen, damit sie sich um Grace kümmerte.
Er hatte die Beseitigung von Pagliones Leiche unauffällig abgewickelt. Parrishs
Körper ließ er zurück, damit man ihn finden und seinen Tod als Resultat eines
Blitzschlages hinnehmen würde. Grace hatte wie eine Marionette Conrads Befehle
ausgeführt. Sie war dabei so betäubt, dass sie sich fragte, ob sie wohl jemals
wieder etwas empfinden würde. Niall war nicht mehr da. Nachts wachte sie
weinend und nach
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