Wie Tau Auf Meiner Haut
überragt, und er hatte niemals etwas Gestärktes tragen
können. Sie hätte sich keinen besseren Bruder wünschen können.
Sie legte einen der beiden Sträuße auf dem Grab ab und lief wie im Nebel weiter.
Sie strauchelte ein wenig, und Harmony legte stützend ihren Arm um sie.
»Alles in Ordnung? «
»Eigentlich nicht«, flüsterte Grace. »Aber ich muss das jetzt tun.«
Bryants Grab hatte im Halbschatten gelegen. Fords Grab dagegen lag in der
vollen Sonne. Das Gras, das darüber gewachsen war, war dicht und üppig.
William Ford Wessner stand auf dem Schild. 27. September 1961 - 27. April
1996. Darunter hatte man noch eine Zeile hinzugefügt: In Liebe verheiratet mit
Grace Elizabeth St. John.
Graces Knie knickte ihr ein, und sie sank trotz Harmonys Bemühungen langsam
auf das Grab hinunter. Zitternd streckte sie ihre Hand aus und zog sehnsüchtig
die eingravierten Buchstaben der Zeile nach. Sie vermisste ihn sosehr, sie wollte
sein schiefes Lachen wieder sehen, den Schalk seiner leuchtenden Augen. Er war
für sie gestorben, und er hatte nicht einen Moment lang gezögert. »Ich werde
dich immer lieben«, versprach sie ihm. Sie konnte seinen Namen nicht mehr
erkennen, denn ihre Sicht war völlig verschwommen. Er war es wert, geliebt zu
werden. Dieses Gefühl würde sie stets in ihrem Herzen behalten. Es würde nie
sterben, genauso wenig wie die Liebe zu ihren Eltern gestorben war.
Das menschliche Herz hat die Fähigkeit, viele Menschen zu lieben, und keine
dieser Lieben bedeutete eine Minderung für die anderen. Niall war bereits in
ihrem Herzen gewesen, noch bevor Ford gestorben war. Er hatte ein Funken
ihres Interesses und ihres Respekts hervorgerufen. Als sie Ford verloren hatte,
war dieser Funken nicht erloschen, sondern war während der langen Monate
ihrer Einsamkeit ständig gewachsen und hatte ihr Kraft verliehen. Zunächst hatte
sie ihn als Menschen geliebt, erst später auch als Mann. Der Funken hatte sich zu
einem lodernden Feuer ausgebreitet, als sie in seine Zeit zurückgereist war. Als
er dann auch noch Kohlen in dieses Feuer gelegt hatte, war daraus ein veritabler
Buschbrand geworden. Wie viele Frauen hatten wohl das Glück, zwei derartige
Lieben zu erfahren? Die beiden waren vollkommen verschiedene
Persönlichkeiten. Ford hatte ein ausgeglichenes Gemüt und war gutgelaunt. Mit
Niall zusammenzuleben würde sicherlich schwierig sein, da er es gewohnt war,
dass ihm jedermann gehorchte. Andere Zeiten, andere Männer - und sie waren
beides Männer im bestmöglichen Sinne des Wortes.
Harmony kniete sich ungeachtet ihrer weißen Hosen neben Grace ins Gras.
»Hätte es ihm etwas ausgemacht? « fragte sie leise und nickte in Richtung der
Grabtafel. »Oder hätte er gewollt, dass du noch einmal liebst? «
»Er würde mir eine neue Liebe wünschen«, erwiderte Grace und streichelte über
das Gras. Sie würde es ihm umgekehrt auch wünschen. Sie konnte zwar ein
kurzes Aufflackern ihrer Eifersucht nicht verhindern - lächerlich unter den
gegebenen Umständen -, aber sie wollte ihn glücklich wissen. Und er war noch
offenherziger und großzügiger gewesen, als sie es war.
Sie legte den Strauß auf dem Grab ab und berührte noch einmal das Grabschild.
Seit seinem Tod hatte sie sich immer nur an ein Bild von ihm erinnern können,
jenes grauenhafte letzte Bild. Die Worte auf dem Grabschild jedoch beschworen
eine andere, glücklichere Vergangenheit herauf. Sie erinnerte sich an ihren
Hochzeitstag. Sie erinnerte sich daran, wie nervös und aufgeregt er gewesen
war, wie häufig er geschluckt hatte, wie seine Stimme gezittert hatte, als er das
Versprechen gegeben hatte. Als die Zeremonie vorbei war, breitete sich ein
breites Grinsen über seinem Gesicht aus. An dieses Grinsen erinnerte sie sich
jetzt, es zeugte einerseits von Erleichterung und andererseits von seinem Glück.
Tränen rannen ihr das Gesicht hinunter, und ihre Lippen zitterten. »Ach, Ford«,
sagte sie mit brüchiger Stimme. »Ich vermisse dich sosehr, und ich liebe dich,
aber ich muss jetzt gehen.«
Harmony half ihr auf die Beine und führte sie vorsichtig weg. Grace strauchelte
auf dem Tau bedeckten Gras. Sie blieb stehen und warf den Kopf in den Nacken.
Es war ein wunderschöner Tag. Sie holte tief Luft, atmete den frischen Duft ein
und betrachtete mit Tränen in den Augen das weite Blau des Himmels.
»Du siehst aus, als ob du jede Minute in Ohnmacht fallen würdest«, meinte
Harmony streng.
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