Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
tatsächlichen Zahlen. Wie sich das Wachstum in den reichen Ländern im Vergleich mit Keynes’ Voraussage entwickelt hat, zeigt Schaubild 2. Schaubild 3 illustriert, wie es in den reichen Ländern mit der Arbeitszeit bestellt ist,wieder im Vergleich mit Keynes’ Voraussage. Das reale Pro-Kopf-Einkommen ist in etwa so gewachsen, wie Keynes erwartet hat, aber die Übereinstimmung ist eher zufällig. Keynes formulierte seine Voraussage unter der Voraussetzung, dass es in den betreffenden Ländern nicht zu größeren Kriegen und erheblichem Bevölkerungszuwachs kommen würde. Tatsächlich gab es einen weiteren Weltkrieg, und die Bevölkerung hat sich fast verdreifacht. Hingegen hat Keynes den Produktivitätszuwachs unterschätzt. Die beiden Irrtümer glichen sich aus, mit dem Ergebnis, dass die Pro-Kopf-Einkommen in den 70 Jahren seit 1930 um das Vierfache stiegen, bis zu Keynes’ unterer Grenze.
2. Wachstum seit Keynes
Quelle: Angus Maddison,
The World Economy: Historical Statistics,
OECD 2005, Measuring Worth (verfügbar unter www.measuringworth.com ); Eurostat; abgerufen am 16. Januar 2012.[ 5 ]
Und was ist mit der Arbeitszeit passiert? Keynes’ Voraussage, unter diesen Umständen würde die Arbeitszeit entsprechend dem Produktivitätswachstum zurückgehen, hing von der scheinbar selbstverständlichen Annahme ab, Einkommen hätten einen abnehmenden Grenznutzen – jeder weitere Zuwachs beim Einkommen bietet ein bisschenweniger Befriedigung als der vorangehende –, sodass Gesellschaften, wenn sie immer reicher werden, mehr Freizeit zusätzlichem Einkommen vorziehen würden. Wenn das Einkommen einer Person steigt, weil sie pro Arbeitsstunde mehr produziert, wird – so die Überlegung – ihre Arbeitszeit sinken, bis der Nutzen eines weiteren Stundenlohns dem einer zusätzlichen Stunde Freizeit entspricht.
3. Wochenarbeitszeit seit Keynes
Quelle: Michael Huberman und Chris Minns, »The Times They are Not Changin’: Days and Hours of Work in Old and New Worlds, 1870–2000«, in:
Explorations in Economic History,
Bd. 44 (2007), S. 538–567.
Aber so ist es nicht gekommen. Von 1870 bis 1930 ist die Arbeitszeit pro Kopf rasch gefallen, und Keynes erwartete, dass sich das fortsetzen würde. »Noch zu unseren Lebzeiten«, schrieb er, »werden wir imstande sein, alle Arbeitshandlungen der Landwirtschaft, des Bergbaus und der Gewerbe mit einem Viertel der menschlichen Mühen durchzuführen, an die wir gewöhnt waren.«[ 6 ] Aber obwohl Einkommen und Produktivität entsprechend seinen Erwartungen gestiegen sind, hat die Arbeitszeit im Vergleich zu 1930 keineswegs um drei Viertel abgenommen. 1930 arbeiteten die Menschen in den Industrieländern rund 50 Stunden proWoche, heute arbeiten sie 40 Stunden. Nach Keynes’ Rechnung sollten wir heute auf dem Weg zur 30-Stunden-Woche sein oder sie bereits erreicht haben. Wenn wir den gegenwärtigen Trend bis 2030 verlängern, kommen wir zu einer 35-Stunden-Woche, aber nicht einmal in die Nähe von 15 Stunden. Es stellt sich also die Frage, warum die Arbeitszeit so viel weniger gesunken ist, als Keynes mit Blick auf den Produktivitätszuwachs angenommen hat.
Keynes grenzte seine Voraussage geografisch nicht ein. Er dachte wahrscheinlich, dass 2030 die armen Länder die reichen mehr oder weniger eingeholt haben würden. Damit lag er nicht ganz falsch. Eine kleine Gruppe ostasiatischer Länder hat den Lebensstandard des Westens erreicht, und eine sehr viel größere Gruppe von Ländern mit mittlerem Einkommen wird das auch bald schaffen. Aber allein durch das Bevölkerungswachstum, das er in dem Maß nicht vorausgesehen hat, lebt ein Viertel der Weltbevölkerung weiterhin in verzweifelter Armut. 1930 lebten 2,7 Milliarden Menschen auf der Welt, heute sind es sieben Milliarden, mehr als das Zweieinhalbfache. Selbst in den reichen Ländern ist die Bevölkerung um über 30 Prozent gewachsen. Die schwierige Frage, die Keynes nicht stellte, lautet, wie weit die Reichen dabei gehen sollten, ihre eigene »Glückseligkeit« aufzuschieben, um den Armen zu helfen.
D IE IRREFÜHRENDEN D URCHSCHNITTE
Bevor wir die Frage näher untersuchen, warum die Arbeitszeit nicht entsprechend dem Wirtschaftswachstum abgenommen hat, sollten wir uns bewusst machen, was unsere Messmethoden verschleiern.
Der Durchschnitt ist einfach die Haupttendenz eines Datensatzes. Die meisten Menschen verstehen den Durchschnitt intuitiv als eine »typische« Zahl. Wenn wir zum Beispiel hören, dass 2011 das
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