Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
das Zehnfache?
Die Antwort auf die erste Frage lautet, dass Keynes glaubte, die Menschen hätten eine begrenzte Zahl materieller Bedürfnisse, und die könnteneines Tages vollkommen befriedigt sein. Er glaubte das, weil er nicht zwischen Begierden und Bedürfnissen unterschied; tatsächlich verwendet er beide Begriffe in seinem Aufsatz synonym. Das war, wie wir sehen werden, ein entscheidender Fehler. Bedürfnisse – das, was objektiv für ein gutes und bequemes Leben nötig ist – sind ihrer Zahl nach endlich, aber Begierden existieren nur im Kopf und können sich unendlich ausweiten, sowohl der Quantität wie der Qualität nach. Das bedeutet, dass das Wirtschaftswachstum nicht automatisch endet. Wenn es aufhört, dann weil die Menschen
entschieden
haben, dass sie nicht mehr wollen, als sie brauchen.
Warum dachte Keynes, das Vier- bis Achtfache des Durchschnittseinkommens zu seiner Zeit sei »genug«? Die Antwort ist ziemlich sicher, dass er den Lebensstandard der Mittelschicht vor Augen hatte, den Lebensstandard von Menschen, denen es seiner Meinung nach »gut ging«. Menschen mit qualifizierten Berufen verdienten in den 1930er-Jahren im Durchschnitt knapp mehr als das Vierfache des Durchschnittslohns eines Arbeiters; der Verdienst von Ärzten und Anwälten betrug das 5,2-Fache beziehungsweise das 7,5-Fache.[ 12 ] Keynes fand, wenn die meisten Menschen so viel Geld hätten, würde ihnen das für ein gutes Leben reichen. Natürlich bedachte er die allgemeine Steigerung des Lebensstandards. Aber er stellte sich vor, dass die Armen im Lauf der Zeit gegenüber den Reichen aufholen würden, weil die Reichen, wenn sie der »Glückseligkeit« näher kämen, ihre Arbeitszeit schneller reduzieren würden als die, denen es weniger gut ging. Er sah nicht voraus, dass die Reichen ihre Arbeitszeit verlängern und den Armen davoneilen würden.[ ***** ]
Keynes’ Vorstellung, dass die Menschen an einem Punkt genug haben, erforderte keine vollkommene Gleichheit der Einkommen. Ihr lagder Gedanke zugrunde, dass etwas für eine bestimmte soziale Rolle
passend
ist. Diese Sicht der Dinge, die bis zu Aristoteles zurückreicht, war bei Keynes’ Zeitgenossen verbreitet. So meinte der Ökonom Alfred Marshall, 500 Pfund im Jahr seien »genug« für einen denkenden Menschen. Virginia Woolf fand, ein Schriftsteller brauche 500 Pfund im Jahr und »ein Zimmer für sich allein«. Diese Summen galten als erforderlich für diese bestimmten Tätigkeiten. Ein gutes Leben ließ sich auf ganz verschiedenen Einkommensniveaus genießen, vorausgesetzt, die grundlegenden materiellen Bedürfnisse einschließlich gewisser Standards für Komfort waren für alle erfüllt.
Und was ist schließlich aus Keynes’ »Möglichkeit« geworden – dass wir unsere freie Zeit dafür verwenden, »weise, angenehm und gut« zu leben? Auf diese Frage können wir noch keine Antwort geben, denn in den reichen Gesellschaften ist heute Freizeit immer noch ein Anhängsel der Arbeitszeit, kein Ersatz dafür. Nach der aufreibenden Arbeit wollen die Menschen »ausspannen«. Ferien dienen dazu, die Batterien für die nächste Arbeitsphase aufzuladen. Die Art und Weise, wie wir heute unsere Freizeit verbringen, ist deshalb meistens kein fairer Test, wie man sie verwenden könnte, wenn die Arbeitszeit gegenüber heute signifikant verringert würde oder ein großer Teil Arbeit nicht so entfremdend wäre. Überdies sind in den höheren Etagen der Wirtschaft Arbeit und Freizeit zu einer allgemeinen zweckhaften Tätigkeit verschmolzen. Der leitende Angestellte, der an »informellen« Meetings in exklusiven Golfclubs teilnimmt, eine Party gibt, um »Kontakte zu knüpfen« und auch im Urlaub rund um die Uhr elektronisch mit seinem Büro Kontakt hält, handelt zweckhaft in Keynes’ Sinn: Er tut Dinge nicht um ihrer selbst willen, sondern um anderer Dinge willen. Die Lebensweise in den reichen Gesellschaften ist heute stärker auf Zwecke ausgerichtet, nicht weniger, beinhaltet mehr Stress, nicht mehr Freizeit. Dieses Paradox wollen wir in den folgenden Kapiteln näher betrachten.
W ARUM HAT SICH K EYNES ’ P ROPHEZEIUNG NICHT ERFÜLLT?
Die Erklärungen, warum die durchschnittliche Arbeitszeit nicht entsprechend dem Einkommenszuwachs abgenommen hat, fallen in drei Kategorien. Es heißt, die Menschen arbeiten so viele Stunden, entweder weil es ihnen
Spaß macht
oder weil sie es
müssen
oder weil sie
immer mehr haben wollen.
Die Freuden der Arbeit
»Wer nicht arbeitet, soll auch
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