Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Durchschnittseinkommen der Menschen in Großbritannien 25.000 Pfund pro Jahr betrug, neigen wir dazu anzunehmen, die meisten hätten 25.000 Pfund pro Jahr verdient, ein paar weniger und ein paar mehr. Aber das muss nicht so sein. Stellen wir uns eine Population von zehn Personen(zum Beispiel eine Fabrik) vor, in der der Geschäftsführer 160.000 Pfund verdient und neun Arbeiter jeweils 10.000 Pfund. Der Durchschnitt ihrer Einkommen ergibt 25.000 Pfund, aber die meisten verdienen 10.000 Pfund. Das ist ein zugespitztes Beispiel für die Situation in Großbritannien und Amerika heute, wo die meisten Menschen weniger als den Durchschnitt verdienen und einige wenige sehr viel mehr. 2011 betrug das Durchschnittseinkommen in Großbritannien 27.000 Pfund, aber das mittlere Einkommen lag bei 21.500 Pfund. Das bedeutet, dass die Hälfte der Bevölkerung weniger als 21.500 Pfund verdiente, einige sogar sehr viel weniger.[ 7 ] Der Trugschluss, aus Durchschnittswerten eine »typische« Situation abzuleiten, spielt bei der Einkommensverteilung eine große Rolle. Wir können nicht sagen, ob der »Wohlstand« in einem Land zu- oder abgenommen hat, wenn wir nichts über die Einkommensverteilung wissen. Aber dieser Trugschluss passiert in vielen Situationen, die uns hier interessieren.
Erstens verbirgt die durchschnittliche Arbeitszeit erhebliche (und zunehmende) Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, mit dem arbeitsamen Amerika am einen Ende, dem »alten Europa« am anderen Ende und Großbritannien näher bei Amerika als bei Europa (siehe Schaubild 4). Zwar sinkt die Zahl der Arbeitsstunden seit den 1980er-Jahren in allen Ländern, aber es bleibt die Frage, warum Amerikaner und Italiener länger arbeiten als die anderen. In einem Bericht aus dem Jahr 2011 heißt es: »Die Amerikaner arbeiten heute im Durchschnitt pro Jahr 122 Stunden mehr als die Briten und fast 378 Stunden (10 Wochen!) mehr als die Deutschen.«[ 8 ] Einiges deutet darauf hin, dass die Arbeitszeit in den Vereinigten Staaten in jüngster Zeit sogar wieder gestiegen ist. Die Niederländer kommen Keynes’ Zustand der »Glückseligkeit« am nächsten. 2011 verdienten sie mit 1400 Arbeitsstunden jährlich – oder 34 Stunden pro Woche – umgerechnet 42.000 Dollar pro Kopf, die Briten mit 1650 Stunden hingegen nur 36.000 Dollar. (Amerikaner bekommen 48.000 Dollar pro Kopf bei 1800 Arbeitsstunden.)[ ** ] Es ist verlockend,diese unterschiedlichen Einstellungen zu Arbeit, Geld und Freizeit mit kulturellen Unterschieden zu erklären. In einer Einwanderergesellschaft wie der amerikanischen galt Geldverdienen als der Königsweg zum Erfolg. Europa trägt das Erbe einer hierarchischen Kultur, die die Chancen zum Geldverdienen ganz oben und ganz unten begrenzte, und das führte zu einer Haltung, die Geldverdienen als Ziel abwertete. Großbritannien liegt in der Mitte, es ist der Anhäufung von Reichtum gegenüber offener als Kontinentaleuropa und gesellschaftlich weniger egalitär als die Vereinigten Staaten. Die kulturellen Unterschiede sind eingebettet in die jeweiligen Gegebenheiten des Steuer- und Sozialsystems sowie des Arbeitsmarkts und werden dadurch noch verstärkt. Es könnte sein, dass bei den langen Arbeitszeiten in Italien all jene nicht mitgezählt werden, die nur sporadisch in der informellen Wirtschaft arbeiten. (Das scheint ein gemeinsames Merkmal aller Mittelmeerstaaten zu sein.)
Zweitens besteht eine Diskrepanz zwischen dem Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeit einerseits und den Arbeitszeiten verschiedener Einkommensgruppen
innerhalb
der Länder. Während die Arbeitszeiten insgesamt gleich geblieben sind, arbeiten viele gering bezahlte Beschäftigte weniger, als sie wollen, und viele Reiche mehr, als sie müssen. Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass die Arbeitszeiten der Wohlhabenden länger geworden sind, vor allem in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, und sich damit der negative Zusammenhang von Arbeit und Einkommen umgekehrt hat, der bislang als gegeben angenommen wurde.[ 9 ] Zu Keynes’ Zeit arbeitete man an der Spitze der Gesellschaft weniger als unten. Die Aristokratie leistete überhaupt keine bezahlte Arbeit, Berufstätige mit höherer Qualifikation verbrachten bemerkenswert wenig Stunden im Büro. Heute sind an die Stelle der reichen »Müßiggänger« die reichen »Workaholics« getreten. Sozialer Status kommt nicht mehr darin zum Ausdruck, dass jemand nicht arbeiten muss. In unserer Wettbewerbsgesellschaft müssen
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