Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
schrieb Keynes, werde der Mensch »zum ersten Male seit seiner Erschaffung […] vor seine wirkliche, seine beständige Aufgabe gestellt sein: wie er seine Freiheit von drückenden, wirtschaftlichen Sorgen nutzt, wie er seine Muße ausfüllt, die Wissenschaft und Zinseszins für ihn gewonnen haben, damit er weise, angenehm und gut leben kann«. Keynes dachte, dieser Zustand könnte innerhalb von 100 Jahren erreicht werden – also im Jahr 2030.
Wenn wir bedenken, in welcher Zeit dieser zukunftsweisende Aufsatz geschrieben wurde, ist es nicht verwunderlich, dass man keine Notiz davon nahm. Die Welt hatte viel dringendere Probleme, unter anderem das, die Weltwirtschaftskrise zu überwinden. Und Keynes kam nie wieder ausdrücklich auf seine Vision zurück, obwohl der Traum einer Zukunft ohne Arbeit im Hintergrund seines Denkens fortbestand. Weltruhm erlangte Keynes mit seinem bedeutenden Buch
Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes
als Theoretiker der kurzfristigen Arbeitslosigkeit, nicht als Theoretiker des langfristigen wirtschaftlichen Fortschritts. Dennoch gibt es gute Gründe, zu den Fragen zurückzukehren, die Keynes erst aufwarf und dann wieder fallenließ.
Als Erstes stellte er eine Frage, die heute kaum diskutiert wird: Wozu ist Reichtum da? Wie viel Geld brauchen wir, um ein gutes Leben zu führen? Das könnte wie eine unmöglich zu beantwortende Frage erscheinen. Aber sie ist nicht banal. Geld zu verdienen, kann kein Selbstzweck sein– zumindest nicht für jemanden, der bei vollem Verstand ist. Zu sagen, mein Ziel im Leben sei es, immer mehr Geld zu scheffeln, ist so, als würde ich sagen, mein Ziel beim Essen sei es, immer dicker zu werden. Und was für einzelne Menschen gilt, gilt ebenso für ganze Gesellschaften. Viel Geld zu verdienen, kann nicht die beständige Beschäftigung der Menschheit sein, aus dem einfachen Grund, dass man mit Geld nichts anderes anfangen kann, als es auszugeben, und wir können nicht einfach immer mehr ausgeben. Es wird ein Punkt kommen, an dem wir saturiert oder überdrüssig sind oder beides. Was von beidem wird es vermutlich sein?
Zweitens befinden wir uns im Westen wieder einmal in einem »großen Abschwung«, dem schlimmsten seit der Weltwirtschaftskrise 1929–1932. Eine große Krise ist wie eine Inspektion: Sie bringt die Fehler des gesellschaftlichen Systems ans Licht und fördert die Suche nach Lösungen. Das System, das zurzeit inspiziert wird, ist der Kapitalismus, und Keynes’ Aufsatz bietet einen Aussichtspunkt, von dem aus wir die Zukunft des Kapitalismus betrachten können. Die Krise hat zwei Systemfehler erkennbar gemacht, die sonst durch das beinahe einhellige Bekenntnis zu Wachstum um fast jeden Preis verdeckt werden.
Als Erstes sind da die moralischen Mängel. Die Bankenkrise hat wieder einmal gezeigt, dass das gegenwärtige System auf den Motiven Gewinnsucht und Gier beruht, die moralisch verwerflich sind. Außerdem teilt das System Gesellschaften in Reiche und Arme, in jüngster Zeit in sehr Reiche und sehr Arme, und rechtfertigt das durch eine Version der Theorie, wonach Wohlstand langsam von oben nach unten »durchsickert«. Das Nebeneinander von großem Reichtum und großer Armut, vor allem in Gesellschaften, in denen genug für alle vorhanden ist, beleidigt unser Gerechtigkeitsempfinden. Zweitens hat die Krise die greifbaren ökonomischen Mängel des Kapitalismus enthüllt. Unser Finanzsystem ist seinem Wesen nach instabil. Wenn etwas schiefgeht wie 2008, erkennen wir, wie ineffizient, verschwenderisch und verletzend das System sein kann. Hoch verschuldeten Ländern wird gesagt, die Finanzmärkte seien erst zufrieden, wenn sie einen großen Teil ihres Volksvermögens liquidiert hätten. Solche periodischen Zusammenbrüche derMaschinerie, die Geld produziert, sind ein großer Anreiz, über bessere Arten der Lebensorganisation nachzudenken.
Schließlich fordert uns Keynes’ Aufsatz heraus, zu überlegen, wie ein Leben nach dem Kapitalismus aussehen könnte (denn ein Wirtschaftssystem, in dem nicht länger Kapital akkumuliert wird, ist nicht mehr kapitalistisch, egal, wie man es nennt). Keynes meinte, der Motor des Kapitalismus sei »ein starker Appell an den Gelderwerbstrieb und die Liebe zum Geld«.[ 1 ] Er glaubte, wenn die Zeit der Fülle erreicht wäre, würde dieser Antrieb die soziale Billigung verlieren, das heißt, der Kapitalismus würde sich selbst abschaffen, sobald er sein Werk vollendet hätte. Aber wir sind
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