Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
Spitze lief als vorderer Leithund stets Anton, der sich über alles, was sich von vorn näherte, mit Wanja »absprach«. Genauso verhielt es sich mit dem hinteren Leithund, in diesem Rudel Alma. Wenn sie nicht in ihrer Natur gestört werden, besitzen Leithunde eine kraftvolle Präsenz und Souveränität, die auch für einen Menschen sofort wahrnehmbar ist. Diese Hunde umgibt eine Aura der Kompetenz, die bei den meisten Menschen ein Gefühl von Respekt auslöst. Leider lösen Leithunde bei einigen auch Verärgerung aus, weil sie sich nicht so unterordnen können, wie es der gängigen Vorstellung von Hundeerziehung und von der Partnerschaft mit einem Hund entspricht. (Siehe die vorangegangenen Geschichten »Eingeschneit« und »Das Ende des Kampfes«.)
Ich habe in meinen früheren Büchern geschrieben, dass ich bisher nur wenige Leithunde kennengelernt hätte – und durfte diese Aussage im vorigen Jahr revidieren. Viele Leithunde habe ich nur deshalb nicht als solche erkannt, weil ich mir darunter immer einen Leithund wie meinen urwüchsigen russischen Leithund Wanja vorstellte, und dementsprechend nur die wenigen Hunde, die ihm im Wesen ähnelten, als Leithunde einordnete. Dass es viel mehr Leithunde gibt, die ihre ursprünglichen Fähigkeiten nur anders zeigen, weil sie in ihrer Natur gestört wurden, verstand ich erst nach und nach durch die Arbeit mit ihnen. Die Hunde, die mit uns leben, haben sich häufig so gut angepasst, dass ihre wahre Identität mitunter nur noch schwer zu erkennen ist. (Das trifft genauso auf die im Rudel vorhandenen Wächter und Flurposten zu.)
Inzwischen kann ich diesen Hunden häufiger hinter die Masken schauen, die sie – genau wie wir selbst – aus Notwehr aufgesetzt haben. Ein bissiger, aggressiver Hund, dem bereits viel Leid zugefügt wurde, damit er sich unterwirft, stellt sich nicht selten als Leithund heraus, der einfach begonnen hat, sich gegen seine Behandlung zu verwahren. Hinter einem abgestumpften, lethargischen Hund kommt oft ein Leithund zum Vorschein, der bereits aufgegeben und seine Persönlichkeit wie einen Mantel irgendwo abgegeben hat, weil sie nie wertgeschätzt und wahrgenommen wurde.
Am häufigsten jedoch treffe ich auf Leithunde, die sich als eilfertige »Dienstboten« tarnen und ihrem Menschen durch eine schier unglaubliche Kooperation das Gefühl geben, dass er es sei, der führe. Damit entgehen sie unangemessenen Disziplinierungen und kommen höchst effizient durchs Leben. Ihr »wahres Gesicht« zeigen sie nur, wenn es um Dinge geht, die ihnen wirklich wichtig sind. In diesen Fällen endet urplötzlich die Kooperation, und die Hunde hören nur noch auf sich selbst. So ist ein mittlerer Leithund plötzlich nicht mehr ansprechbar, wenn er sich um andere Hunde kümmern will, ein vorderer Leithund ist nicht zu halten, wenn er auf Reiz von vorn zuläuft, ein hinterer Leithund gefriert zur Salzsäule und ist nicht mehr vom Fleck zu bewegen, wenn sich von hinten etwas für ihn schwer Einschätzbares nähert. Rein persönlich gehaltene Interessen wie Jagen, Rumstromern und Ähnliches gehören natürlich auch zu den Situationen, in denen die Dienstbotentarnung aufgegeben wird. Für den Menschen, der mit ihnen lebt, kann das sehr verunsichernd sein, da die Tiere ansonsten so ungemein verlässlich scheinen, und es auch sind. Halter von Leithunden beschreiben diese Momente, in denen sie sich seltsam vorgeführt fühlen, häufig als sehr frustrierend.
Führung durch den Menschen
Wie aber leitet man einen Leithund?, werden Sie sich nun vielleicht fragen.
Gegenfrage: Wie würden Sie eine(n) Bundeskanzler/in leiten?
Die Antwort lautet: gar nicht.
Mit einem Leithund können Sie »nur« kooperieren. Dazu müssen Sie Ihre eigene Präsenz und Führungskompetenz im Alltag nachweisen, ihm Wertschätzung für sein Handeln zuteilwerden lassen und ihn auf gelassene Weise bitten können, für Sie zu tun, was er anderweitig unterlassen würde, oder zu unterlassen, was er eigentlich tun will. Ein solcher Hund spürt sehr genau, wie wahrhaftig Sie mit ihm und anderen umgehen. Er nimmt wahr, ob Sie Kompetenz mit Schärfe oder unangemessenem Druck kompensieren, oder ob Sie tatsächlich in sich ruhen und sind, was Sie vorzugeben scheinen. Dabei beurteilt er Sie weder moralisch, noch wartet er auf einen Fehler. Es ist einfach ein Teil seiner Wahrnehmung, nicht mehr und nicht weniger. Aus der Arbeit mit Menschen, die mit einem Leithund leben, weiß ich, dass ein solcher Hund (wenn seine
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