Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
ich das große Glück habe, dass mir sehr viele Hunde als Lehrmeister bei meiner Arbeit zur Verfügung stehen, habe ich mit der Zeit gelernt, auf Massivität zu verzichten und Präsenz zu erwerben. Das zeigt sich heute zum Beispiel sehr deutlich daran, wie ich einen Raum beanspruche. Während ich Hunde vor zwei Jahren noch häufig sanft, aber bestimmt zurückschob, wenn sie mich in bestimmten Situationen überholen wollten, komme ich heute bei neunzig Prozent von ihnen ganz ohne körperliche Berührung aus. Mittlerweile drehe ich mich, bevor der Hund an mir vorbeiziehen kann, kurz zu ihm ein und mache das, was mein derzeitiger Leithund Raida macht: Ich zeige Präsenz. Dabei ist völlige Ruhe und keinerlei körperliche Aktion gefragt. Ich stehe einfach da, sehe den Hund an und warte, bis ich bei ihm angekommen bin. Dann gehe ich weiter. Das hat dazu geführt, dass ich ihn danach nicht mehr darauf hinweisen muss, dass der Raum vor mir gerade tabu ist, weil ich das bereits durch diesen mentalen Dialog geklärt habe. (Das bedeutet nicht, dass der Hund dadurch auch beim nächsten Gang an der Leine von allein hinter Ihnen läuft. Da Sie kommunizieren und nicht konditionieren, müssen Sie eine Information immer wieder geben.)
Testen Sie Ihre Präsenz einmal in einer Partnerübung mit einem Menschen, bevor Sie sie mit Ihrem Hund üben. Stellen Sie sich frontal vor den Partner und seien Sie einfach sehr präsent (wie bei der Spiegelübung). Sehen Sie den Menschen dabei an, auch wenn jener den Blick auf irgendetwas anderes gerichtet hält, wie viele Hunde das in dieser Situation auch tun, weil sie bereits an die Stelle sehen, zu der sie hinwollen. Lassen Sie den Menschen nicht an sich vorbei. Sie stehen wie eine Wand (oder die Haushälterin in dem Hitchcock Film Rebecca , die ein hervorragendes Beispiel für Präsenz ist) immer wie aus dem Boden gewachsen bereits vor ihm. Wirken Sie einfach für sich und machen Sie sonst gar nichts. Ihr Partner wird auf die Spannung, die Sie dadurch aufbauen, reagieren. Wenn Sie keine Spannung erzeugen, weil Sie noch nicht genügend Präsenz haben, wird er nicht reagieren. Reagiert er und sieht Sie zum Beispiel an oder hält in seiner Bewegung inne, merken Sie sich diese Energie für Ihren Hund.
Um die Präsenz gegebenenfalls verstärken zu können, habe ich für mich ein Bild gefunden, das mir am Anfang half, diese Fähigkeit zu erlernen. Ich wurde (allein) nur zur Probe erst einmal lauter, indem ich mit Sprache und/oder Geräuschen arbeitete, und spürte, wie meine Energie dabei nach vorn ging und so massiven Druck erzeugte. Dann probierte ich ein wenig herum, bis ich darauf kam, mir meine eigene Präsenz wie eine innere Säule vorzustellen, die ich immer mehr in die Breite schiebe, wenn ich sie verstärken will. Sie können auch jedes beliebige andere Bild nehmen, das Ihnen hilft, bei sich selbst zu bleiben und Massivität nach vorn zu vermeiden.
Hundebegegnungen üben
Für Hunde muss es seltsam sein, dass sie an unserer Seite üben müssen, wie sie sich ihren eigenen Artgenossen gegenüber verhalten sollen.
Stellen Sie sich vor, wir alle lebten – weil es keinen anderen Ort auf der Welt mehr für uns gibt – mit Elefanten in der Savanne, die uns versorgen, weil wir an das Leben dort nicht angepasst sind. Da wir nun nicht mehr miteinander leben, sondern jeder Einzelne von uns mit »seinem« Elefanten zusammen ist, verlieren wir unsere Familienverbünde und unsere Freunde. Wir verlernen den kulturellen Umgang miteinander, haben keinen Beruf mehr oder sonst etwas, das uns bisher ausmachte, und werden von den Elefanten immer abhängiger. Wir sind darauf angewiesen, dass die Elefanten sich richtig verhalten und uns die Möglichkeit geben, unsere Individualdistanzen einzuhalten. Weil die Elefanten unsere Bedürfnisse jedoch nicht kennen, schlagen sie uns mitunter mit dem Rüssel auf die Hände, wenn wir uns untereinander freundlich guten Tag sagen wollen, und einige von ihnen stupsen uns zueinander, auch wenn wir unser Gegenüber gerade gar nicht ausstehen können.
Irgendwann sind wir alle so gestört und machen den Elefanten so viele Probleme, dass sie Menschenschulen gründen, die sie einmal in der Woche mit uns besuchen, damit wir wieder lernen, miteinander umzugehen. Der Lehrer ist natürlich auch ein Elefant.
Dieses Fantasiegebilde ist selbstverständlich nicht eins zu eins auf die Hund-Mensch-Situation übertragbar, aber mitunter stelle ich mir das Erleben unserer Hunde so
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